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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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zu zerstreuen. Wenn man nun erwägt, wie viel Antheil an wahrer
Bildung das Weib hat und nothwendig haben muß; wenn man erwägt,
wie nur im Umgange mit Frauen sich die rauhen Sitten abschleifen, der
wird es natürlich finden, daß die Durchschnittsbildung der hiesigen Män¬
ner eine ziemlich niedere ist; und wird es erklärlich finden, daß man hier
sowie überhaupt am Rhein den Bestrebungen in unserer Literatur solche
geringe Theilnahme zuwendet, daß ein Buch oft hier noch unbekannt,
wenn es in andern Gegenden Deutschlands schon vergriffen ist. Da nun
die Männerwelt den höhern Interessen sich unzugänglich zeigt, so wenden
sich Diejenigen, denen es um die Fortbildung des hiesigen Publicums oder um
eigene Mittheilung zu thun ist, gewöhnlich an die Frauen. So wird diesen
Winter Literatur- und Kirchengeschichte für Frauen gelesen, und es zeigt sich
unter diesen die größte Theilnahme. Ueberhaupt aber darf man den oben ge¬
rügten Mangel an Bildung nicht in dem Mangel an Sinn dafür suchen; der
Rheinländer hat eine viel zu lebhafte Phantasie, einen viel zu regen Geist,
als daß er stumpf gegen das Bessere sein sollte. Es kommt aber nur
darauf an, welche Nahrung man seiner Phantasie darbietet, auf welche
Weise man sich seines Geistes bemächtigt und welche Richtung man die¬
sem zu geben trachtet. Die Hauptübel, an denen unser sociales Leben
leidet, ziehen ihren ursprünglichen Krankheitsstoff aus den hiesigen Schu¬
len. Diese sind so bodenlos schlecht, daß die Aufmerksamkeit der guten
Mainzer wie gewöhnlich erst allzuspät darauf gelenkt wurde. Und nun,
da es gilt, eine Radikalkur in Anwendung zu bringen, läßt man es vor
der Hand auch nur bei der bloßen Velleität bewenden.


II.
Aus Prag.

Gesellschaftliche Hungersnot". -- Die adeligen Kreise und die Bürgerressource. --
Krankhafte Symptome. -- Die beiden Regicrungsarme. -- Die Cenlralcassenan-
Weisung. -- Die gescheiterte Hypothekenbank. -- ständischer Acrienplan zur Ver¬
pflegung der Avbeitcrclasse.

Es gibt nicht jeden Monat einen Freistaat einzuverleiben und Wich¬
tiges zu berichten und doch soll der Corresponoentenpflicht genügt, doch
soll die Welt an das vereinsamte Prag erinnert, das noch immer
erwartet, durch die projectirten Bahnlinien zu einem Hauptknotcn oeS
Bahnnetzes zu werden und zu hoher Bedeutung zu gelangen, einstweilen
aber bescheiden mit der alten Unbedeutendheit sich begnügen muß.

Zu verwundern ist es, daß sich erst eine einzige englische Familie
hier angesiedelt hat, da doch diele die 8<-<in>'8t'i>i">ii ni-lau-n so besonders
lieben, und auf diesen Vorzug haben wir den ersten Anspruch, wenn auf
einen. Wer so recht nach Herzensgelüsten und systematisch sich zu lang,
weilen wünscht komme doch an den malerischen Moldaustrand und wandle
von der Steinbrücke nach der Kettenbrücke, von da nach dem Bahnhofe
und wieoer zurück, wie der große Reisende von Stolpe, und er hat daS
öffentliche Leben Prags genossen in seiner Herrlichkeit, heute wie morgen,
wie übermorgen und immerdar; das Theater mag er des Abends besuchen,


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zu zerstreuen. Wenn man nun erwägt, wie viel Antheil an wahrer
Bildung das Weib hat und nothwendig haben muß; wenn man erwägt,
wie nur im Umgange mit Frauen sich die rauhen Sitten abschleifen, der
wird es natürlich finden, daß die Durchschnittsbildung der hiesigen Män¬
ner eine ziemlich niedere ist; und wird es erklärlich finden, daß man hier
sowie überhaupt am Rhein den Bestrebungen in unserer Literatur solche
geringe Theilnahme zuwendet, daß ein Buch oft hier noch unbekannt,
wenn es in andern Gegenden Deutschlands schon vergriffen ist. Da nun
die Männerwelt den höhern Interessen sich unzugänglich zeigt, so wenden
sich Diejenigen, denen es um die Fortbildung des hiesigen Publicums oder um
eigene Mittheilung zu thun ist, gewöhnlich an die Frauen. So wird diesen
Winter Literatur- und Kirchengeschichte für Frauen gelesen, und es zeigt sich
unter diesen die größte Theilnahme. Ueberhaupt aber darf man den oben ge¬
rügten Mangel an Bildung nicht in dem Mangel an Sinn dafür suchen; der
Rheinländer hat eine viel zu lebhafte Phantasie, einen viel zu regen Geist,
als daß er stumpf gegen das Bessere sein sollte. Es kommt aber nur
darauf an, welche Nahrung man seiner Phantasie darbietet, auf welche
Weise man sich seines Geistes bemächtigt und welche Richtung man die¬
sem zu geben trachtet. Die Hauptübel, an denen unser sociales Leben
leidet, ziehen ihren ursprünglichen Krankheitsstoff aus den hiesigen Schu¬
len. Diese sind so bodenlos schlecht, daß die Aufmerksamkeit der guten
Mainzer wie gewöhnlich erst allzuspät darauf gelenkt wurde. Und nun,
da es gilt, eine Radikalkur in Anwendung zu bringen, läßt man es vor
der Hand auch nur bei der bloßen Velleität bewenden.


II.
Aus Prag.

Gesellschaftliche Hungersnot». — Die adeligen Kreise und die Bürgerressource. —
Krankhafte Symptome. — Die beiden Regicrungsarme. — Die Cenlralcassenan-
Weisung. — Die gescheiterte Hypothekenbank. — ständischer Acrienplan zur Ver¬
pflegung der Avbeitcrclasse.

Es gibt nicht jeden Monat einen Freistaat einzuverleiben und Wich¬
tiges zu berichten und doch soll der Corresponoentenpflicht genügt, doch
soll die Welt an das vereinsamte Prag erinnert, das noch immer
erwartet, durch die projectirten Bahnlinien zu einem Hauptknotcn oeS
Bahnnetzes zu werden und zu hoher Bedeutung zu gelangen, einstweilen
aber bescheiden mit der alten Unbedeutendheit sich begnügen muß.

Zu verwundern ist es, daß sich erst eine einzige englische Familie
hier angesiedelt hat, da doch diele die 8<-<in>'8t'i>i«>ii ni-lau-n so besonders
lieben, und auf diesen Vorzug haben wir den ersten Anspruch, wenn auf
einen. Wer so recht nach Herzensgelüsten und systematisch sich zu lang,
weilen wünscht komme doch an den malerischen Moldaustrand und wandle
von der Steinbrücke nach der Kettenbrücke, von da nach dem Bahnhofe
und wieoer zurück, wie der große Reisende von Stolpe, und er hat daS
öffentliche Leben Prags genossen in seiner Herrlichkeit, heute wie morgen,
wie übermorgen und immerdar; das Theater mag er des Abends besuchen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/563>, abgerufen am 23.07.2024.