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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Leipziger Briefe.



2.

Die Urania für 1847. -- Stenibera,, Therese, Gutzkow, Gerstäcker, Berthold Auer-
bach. -- "Schrift und Volk in." -- Auerbach als Theoretiker. -- Der Dorfchronist
in der Stadt.

Eine Novelle von Baron von Sternberg, "Sibvlle" genannt, er¬
öffnet die diesjährige Urania. Der Baron und die Gräfin (Hahn)
sind sich in gleichem Zweck und Namen begegnet, um ein eigenthümlich
Frauenbild zum Mittelpunkte einer Novelle zu machen. Glücklicher¬
weise hat sich Herr von Sternberg kürzer gefaßt. Langer Athem ist
überhaupt nicht seine Sache, er hält allmälig die Composition für eine
Unart. Wozu die Kleidung, wozu die Gruppe, wozu der Farbenwechsel,
wozu die Bewegung? Man zeichne eine nackte Figur. Sie versinnlicht
die Idee, allenfalls auch nur die launische Seite einer Idee: die Marotte.

Ist es vielleicht ein tiefes Merkmal sterbender Aristokratie, daß
ihre belletristischen Schriftsteller so tiefe Abneigung haben vor Compo¬
sition, oder so deutliche Unfähigkeit für dieselbe? Composition ist ja
wirklich eine Mischung; Mischung ist fatal. Da macht jedes einzelne
Wesen, jeder beiläufige Vorfall Anspruch aus weitere Beachtung, An¬
spruch auf Conseguenzen. Man verliert das Seigneur-Recht; die er¬
richtete Verwicklung bringt die ihr inwohnenden eignen Rechte mit sich;
sie verlangt eine lästige Aufmerksamkeit nach zehn verschiedenen Seiten;
sie wächst uns zu Kopf: es ist eine konstitutionelle Wirthschaft, die
unserm Naturel nicht zusagt, die unsere geistreich vorgefaßte Idee nur
stört; wozu das?

Gräfin Hahn hat noch mehr Herrschersinn, sie nöthigt doch man¬
cherlei heran an die von ihr errichtete Stange. So kommt mehr Ein¬
heit in ihre Bücher und sie werden länger, aber innerlichst ist ihr ästhe¬
tisches Princip ziemlich dasselbe, wie das Sternberg'S: aus Apercus
Novellen und Romane zu machen. Diese ästhetische Armuth begegnet
-einer ganz verwandten bei den Schriftstellern, welche um jeden Preis
demokratisch sein wollen. Sie schreiben ebenfalls Novellen zum Be¬
weise für eine Idee und mögen sich den Beweis nicht erschweren durch
Zulassung einer sich frei begründenden Form. Was Form! Das ist


Grenzboten. IV. 18i". 4g
Leipziger Briefe.



2.

Die Urania für 1847. — Stenibera,, Therese, Gutzkow, Gerstäcker, Berthold Auer-
bach. — „Schrift und Volk in." — Auerbach als Theoretiker. — Der Dorfchronist
in der Stadt.

Eine Novelle von Baron von Sternberg, „Sibvlle" genannt, er¬
öffnet die diesjährige Urania. Der Baron und die Gräfin (Hahn)
sind sich in gleichem Zweck und Namen begegnet, um ein eigenthümlich
Frauenbild zum Mittelpunkte einer Novelle zu machen. Glücklicher¬
weise hat sich Herr von Sternberg kürzer gefaßt. Langer Athem ist
überhaupt nicht seine Sache, er hält allmälig die Composition für eine
Unart. Wozu die Kleidung, wozu die Gruppe, wozu der Farbenwechsel,
wozu die Bewegung? Man zeichne eine nackte Figur. Sie versinnlicht
die Idee, allenfalls auch nur die launische Seite einer Idee: die Marotte.

Ist es vielleicht ein tiefes Merkmal sterbender Aristokratie, daß
ihre belletristischen Schriftsteller so tiefe Abneigung haben vor Compo¬
sition, oder so deutliche Unfähigkeit für dieselbe? Composition ist ja
wirklich eine Mischung; Mischung ist fatal. Da macht jedes einzelne
Wesen, jeder beiläufige Vorfall Anspruch aus weitere Beachtung, An¬
spruch auf Conseguenzen. Man verliert das Seigneur-Recht; die er¬
richtete Verwicklung bringt die ihr inwohnenden eignen Rechte mit sich;
sie verlangt eine lästige Aufmerksamkeit nach zehn verschiedenen Seiten;
sie wächst uns zu Kopf: es ist eine konstitutionelle Wirthschaft, die
unserm Naturel nicht zusagt, die unsere geistreich vorgefaßte Idee nur
stört; wozu das?

Gräfin Hahn hat noch mehr Herrschersinn, sie nöthigt doch man¬
cherlei heran an die von ihr errichtete Stange. So kommt mehr Ein¬
heit in ihre Bücher und sie werden länger, aber innerlichst ist ihr ästhe¬
tisches Princip ziemlich dasselbe, wie das Sternberg'S: aus Apercus
Novellen und Romane zu machen. Diese ästhetische Armuth begegnet
-einer ganz verwandten bei den Schriftstellern, welche um jeden Preis
demokratisch sein wollen. Sie schreiben ebenfalls Novellen zum Be¬
weise für eine Idee und mögen sich den Beweis nicht erschweren durch
Zulassung einer sich frei begründenden Form. Was Form! Das ist


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[0345] Leipziger Briefe. 2. Die Urania für 1847. — Stenibera,, Therese, Gutzkow, Gerstäcker, Berthold Auer- bach. — „Schrift und Volk in." — Auerbach als Theoretiker. — Der Dorfchronist in der Stadt. Eine Novelle von Baron von Sternberg, „Sibvlle" genannt, er¬ öffnet die diesjährige Urania. Der Baron und die Gräfin (Hahn) sind sich in gleichem Zweck und Namen begegnet, um ein eigenthümlich Frauenbild zum Mittelpunkte einer Novelle zu machen. Glücklicher¬ weise hat sich Herr von Sternberg kürzer gefaßt. Langer Athem ist überhaupt nicht seine Sache, er hält allmälig die Composition für eine Unart. Wozu die Kleidung, wozu die Gruppe, wozu der Farbenwechsel, wozu die Bewegung? Man zeichne eine nackte Figur. Sie versinnlicht die Idee, allenfalls auch nur die launische Seite einer Idee: die Marotte. Ist es vielleicht ein tiefes Merkmal sterbender Aristokratie, daß ihre belletristischen Schriftsteller so tiefe Abneigung haben vor Compo¬ sition, oder so deutliche Unfähigkeit für dieselbe? Composition ist ja wirklich eine Mischung; Mischung ist fatal. Da macht jedes einzelne Wesen, jeder beiläufige Vorfall Anspruch aus weitere Beachtung, An¬ spruch auf Conseguenzen. Man verliert das Seigneur-Recht; die er¬ richtete Verwicklung bringt die ihr inwohnenden eignen Rechte mit sich; sie verlangt eine lästige Aufmerksamkeit nach zehn verschiedenen Seiten; sie wächst uns zu Kopf: es ist eine konstitutionelle Wirthschaft, die unserm Naturel nicht zusagt, die unsere geistreich vorgefaßte Idee nur stört; wozu das? Gräfin Hahn hat noch mehr Herrschersinn, sie nöthigt doch man¬ cherlei heran an die von ihr errichtete Stange. So kommt mehr Ein¬ heit in ihre Bücher und sie werden länger, aber innerlichst ist ihr ästhe¬ tisches Princip ziemlich dasselbe, wie das Sternberg'S: aus Apercus Novellen und Romane zu machen. Diese ästhetische Armuth begegnet -einer ganz verwandten bei den Schriftstellern, welche um jeden Preis demokratisch sein wollen. Sie schreiben ebenfalls Novellen zum Be¬ weise für eine Idee und mögen sich den Beweis nicht erschweren durch Zulassung einer sich frei begründenden Form. Was Form! Das ist Grenzboten. IV. 18i«. 4g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/345>, abgerufen am 23.07.2024.