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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Vom Niederlande hat's der Harz vernommen,
Da schrie er auf aus seinen hundert Schlünden,
Dem Fichtelverg die Botschaft zu verkünden,
Der rief den Alpen sie, vor Grimm beklommen.
Die Alpen sandten sie nach Ost und Norden
Mit Rhein und Donau, die im Wogcnbrande
Wie Zornesadern schwollen aus den Borden.
Nun wissend schon die Kinder weit im Lande,
Und alle Stimmen sind Ein Schrei geworden,
Ein Schrei nach Sühne sür so große Schande.

51II.
VI.
Hebbel'S Maria Magdalena auf der Bühne.

Das Leipziger Theater hat das Verdienst einer Dichtung, deren sel¬
tene Schönheiten bisher blos in literarischen Kreisen gewürdigt wurden,
zu ihrem Recht: zum vollen Leben der Darstellung verhelfen zu haben.
Dies Verdienst ist ein reelles, weil die Direktion sich der Gefahr aussetzte,
beim Mißlingen des Stücks von allen prüden Splitterrichtern sich ange¬
klagt zu sehen, ein solches Thema vor den Augen frommer Christen zur
Schau gestellt zu haben. In der That ist die Haupthandlung des Stü¬
ckes aus einem Stoff so delicater Natur gewebt, wie er auf deutscher
Bühne noch nicht gewagt wurde. Ein schwangeres Mädchen, welches,
verlassen von dem Bräutigam und die Entdeckung ihres Geheimnisses von
den strengen Aeltern fürchtend, sich selbst den Tod gibt, ist der Mittel¬
punkt, die Heldin des Dramas. Dieser Stoff mag dem Einen zu ein¬
fach, dem Andern zu unsittlich scheinen: diese "einfache", "unsittliche" Ge¬
schichte ist nichtsdestoweniger eine der merkwürdigsten Productionen deutscher
Dramatik, und die deutsche Literatur hat seit Goethe's Hermann und Dorothea
wenig Erzeugnisse, in denen die Charaktere mit solcher tief psychologischer
Wahrheit, mit solcher plastischen Individualisirung gezeichnet sind. Aller¬
dings ist andererseits das Drama Maria Magdalena ein vollständiger
Gegensatz zu Goethe's heiter lieblichem Idyll. Hier ist Alles düster; der
wühlerische Poet hat sich ganz in ^die Nachtseite des Lebens vergraben.
Von der Mutter, die gleich im ersten Acte vom Schlag gerührt wird,
bis zur Tochter, die am Schlüsse sich in den Brunnen stürzt, brechen
fast alle diese Menschen physisch oder moralisch zusammen. Und darin
liegt die Hauptsünde des Dichters; alle Fenster und Zugänge seiner Dich¬
tung sind mit schwarzen Tüchern behängt, nirgends eine versöhnende Aus¬
sicht ins Freie, Helle, Erlösende. Es weht eine Siroccoluft in dieser Schö¬
pfung, die Alles niedersengt. In diesem Stücke siegt Niemand -- Alles
unterliegt! Mit Recht schließt der alte Meister Anton mit den Worten:


Vom Niederlande hat's der Harz vernommen,
Da schrie er auf aus seinen hundert Schlünden,
Dem Fichtelverg die Botschaft zu verkünden,
Der rief den Alpen sie, vor Grimm beklommen.
Die Alpen sandten sie nach Ost und Norden
Mit Rhein und Donau, die im Wogcnbrande
Wie Zornesadern schwollen aus den Borden.
Nun wissend schon die Kinder weit im Lande,
Und alle Stimmen sind Ein Schrei geworden,
Ein Schrei nach Sühne sür so große Schande.

51II.
VI.
Hebbel'S Maria Magdalena auf der Bühne.

Das Leipziger Theater hat das Verdienst einer Dichtung, deren sel¬
tene Schönheiten bisher blos in literarischen Kreisen gewürdigt wurden,
zu ihrem Recht: zum vollen Leben der Darstellung verhelfen zu haben.
Dies Verdienst ist ein reelles, weil die Direktion sich der Gefahr aussetzte,
beim Mißlingen des Stücks von allen prüden Splitterrichtern sich ange¬
klagt zu sehen, ein solches Thema vor den Augen frommer Christen zur
Schau gestellt zu haben. In der That ist die Haupthandlung des Stü¬
ckes aus einem Stoff so delicater Natur gewebt, wie er auf deutscher
Bühne noch nicht gewagt wurde. Ein schwangeres Mädchen, welches,
verlassen von dem Bräutigam und die Entdeckung ihres Geheimnisses von
den strengen Aeltern fürchtend, sich selbst den Tod gibt, ist der Mittel¬
punkt, die Heldin des Dramas. Dieser Stoff mag dem Einen zu ein¬
fach, dem Andern zu unsittlich scheinen: diese „einfache", „unsittliche" Ge¬
schichte ist nichtsdestoweniger eine der merkwürdigsten Productionen deutscher
Dramatik, und die deutsche Literatur hat seit Goethe's Hermann und Dorothea
wenig Erzeugnisse, in denen die Charaktere mit solcher tief psychologischer
Wahrheit, mit solcher plastischen Individualisirung gezeichnet sind. Aller¬
dings ist andererseits das Drama Maria Magdalena ein vollständiger
Gegensatz zu Goethe's heiter lieblichem Idyll. Hier ist Alles düster; der
wühlerische Poet hat sich ganz in ^die Nachtseite des Lebens vergraben.
Von der Mutter, die gleich im ersten Acte vom Schlag gerührt wird,
bis zur Tochter, die am Schlüsse sich in den Brunnen stürzt, brechen
fast alle diese Menschen physisch oder moralisch zusammen. Und darin
liegt die Hauptsünde des Dichters; alle Fenster und Zugänge seiner Dich¬
tung sind mit schwarzen Tüchern behängt, nirgends eine versöhnende Aus¬
sicht ins Freie, Helle, Erlösende. Es weht eine Siroccoluft in dieser Schö¬
pfung, die Alles niedersengt. In diesem Stücke siegt Niemand — Alles
unterliegt! Mit Recht schließt der alte Meister Anton mit den Worten:


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[0130] Vom Niederlande hat's der Harz vernommen, Da schrie er auf aus seinen hundert Schlünden, Dem Fichtelverg die Botschaft zu verkünden, Der rief den Alpen sie, vor Grimm beklommen. Die Alpen sandten sie nach Ost und Norden Mit Rhein und Donau, die im Wogcnbrande Wie Zornesadern schwollen aus den Borden. Nun wissend schon die Kinder weit im Lande, Und alle Stimmen sind Ein Schrei geworden, Ein Schrei nach Sühne sür so große Schande. 51II. VI. Hebbel'S Maria Magdalena auf der Bühne. Das Leipziger Theater hat das Verdienst einer Dichtung, deren sel¬ tene Schönheiten bisher blos in literarischen Kreisen gewürdigt wurden, zu ihrem Recht: zum vollen Leben der Darstellung verhelfen zu haben. Dies Verdienst ist ein reelles, weil die Direktion sich der Gefahr aussetzte, beim Mißlingen des Stücks von allen prüden Splitterrichtern sich ange¬ klagt zu sehen, ein solches Thema vor den Augen frommer Christen zur Schau gestellt zu haben. In der That ist die Haupthandlung des Stü¬ ckes aus einem Stoff so delicater Natur gewebt, wie er auf deutscher Bühne noch nicht gewagt wurde. Ein schwangeres Mädchen, welches, verlassen von dem Bräutigam und die Entdeckung ihres Geheimnisses von den strengen Aeltern fürchtend, sich selbst den Tod gibt, ist der Mittel¬ punkt, die Heldin des Dramas. Dieser Stoff mag dem Einen zu ein¬ fach, dem Andern zu unsittlich scheinen: diese „einfache", „unsittliche" Ge¬ schichte ist nichtsdestoweniger eine der merkwürdigsten Productionen deutscher Dramatik, und die deutsche Literatur hat seit Goethe's Hermann und Dorothea wenig Erzeugnisse, in denen die Charaktere mit solcher tief psychologischer Wahrheit, mit solcher plastischen Individualisirung gezeichnet sind. Aller¬ dings ist andererseits das Drama Maria Magdalena ein vollständiger Gegensatz zu Goethe's heiter lieblichem Idyll. Hier ist Alles düster; der wühlerische Poet hat sich ganz in ^die Nachtseite des Lebens vergraben. Von der Mutter, die gleich im ersten Acte vom Schlag gerührt wird, bis zur Tochter, die am Schlüsse sich in den Brunnen stürzt, brechen fast alle diese Menschen physisch oder moralisch zusammen. Und darin liegt die Hauptsünde des Dichters; alle Fenster und Zugänge seiner Dich¬ tung sind mit schwarzen Tüchern behängt, nirgends eine versöhnende Aus¬ sicht ins Freie, Helle, Erlösende. Es weht eine Siroccoluft in dieser Schö¬ pfung, die Alles niedersengt. In diesem Stücke siegt Niemand — Alles unterliegt! Mit Recht schließt der alte Meister Anton mit den Worten:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/130>, abgerufen am 23.07.2024.