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Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band.

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Freiheit mehr zu schonen, wenn es sich hier populär machen und die
germanischen Sympathieen der guten Flaum gehörig benutzen wollte.
Die deutschen Zeitungen reden freilich viel von ihrem Elsaß, von ihrer
Schweiz und ihrem vlämisch Belgien. Aber es fragt sich noch, ob
das officielle Deutschland Elsaß, Schweiz und vlämisch Belgien ge¬
schenkt nähme, wenn eine Compagnie nationaler Publicisten all diese
schönen Gegenden mit tapferem Phrafensabel im Nu eroberte. Ich
meine, man würde sich besinnen, eine solche Masse räudiger Schafe
in den frommen Schafstall aufzunehmen. Die deutschen Ausländer
sind keine artigen Schulknaben, sondern trotzige Buben, die dem
Schulmeister schier entwachsen sind. Und dann: Deutschland hat jetzt
keine Zeit, sich mit dergleichen Chimären abzugeben: es hat Wichti¬
geres zu thun. Untersuchungen über entfernte Anspielungsversuche
und wcltuntergrabende Toaste, Razzias gegen rebellische Zeitungs¬
schreiber und Bücher, religionskriegerische Schattenspiele und dogma¬
tisch-polizeiliche Discusstonen, das sind ganz andere Großthaten, die
dem deutschen Tiefsinn noch in tausend Jahren zum Ruhme gereichen
werden, wenn sie auch nicht geeignet sind, die Deutschen im Auslande
zu erobern.


II.
A u S W i c n.
1.

Saison und Virtuosenthum. -- Umschwung des gesellschaftlichen Geistes. --
Theaternovität. -- Knoll" Tod und Nachlaß. -- Ein Schauspieler in den
Wolken. -- Gelehrtensachen. -- Wechselseitige Honneurs zwischen Oesterreich
und Griechenland.

Die Saison hat bereits begonnen und die Schaar conzertlustiger
Virtuosen rüstet sich nunmehr, um die Welt mit den Wundern ihrer
Kunst zu erfreuen. Unglücklicher Weise ist aber der Werth dieser
Virtuosenkunst bei uns dergestalt im Preise gesunken, daß sich kaum
noch die gewünschte Theilnahme einstellen wird, ja daß wohlkaumnoch
ein geduldiges Freikartenpublikum zu erwarten ist, welches den eitlen Pia¬
nohelden pflichtschuldigst hervorrufe und seinen Ruhm in Wort und
Schrift ausposaune. Auch auf diesem Felde glaubt man an keine
Wunder mehr und sieht nun recht gut ein, daß das Ganze keine --
Hexerei, sondern bloße Geschwindigkeit ist. Selbst Thalberg, der mit
seiner hübschen Frau zu der Wiege seines Rufes zurückgekehrt ist, hat
diese Wendung der musikalischen Stimmung im Publikum nachgerade
empfinden müssen. Ja, um die Niederlage des Virtuoscnthums recht
glänzend und die Umkehr des öffentlichen Geschmacks zum Natürlichen
und Ursprünglichen augenfällig zu machen, mußte es geschehen, daß
ein von Netzer komponicres, ganz einfaches Lied, welches Staudigl
sang, alle Zuhörer entflammte, indeß die Zauberkünste der Fingerfer-


Brenzboten. I"is. IV. 35

Freiheit mehr zu schonen, wenn es sich hier populär machen und die
germanischen Sympathieen der guten Flaum gehörig benutzen wollte.
Die deutschen Zeitungen reden freilich viel von ihrem Elsaß, von ihrer
Schweiz und ihrem vlämisch Belgien. Aber es fragt sich noch, ob
das officielle Deutschland Elsaß, Schweiz und vlämisch Belgien ge¬
schenkt nähme, wenn eine Compagnie nationaler Publicisten all diese
schönen Gegenden mit tapferem Phrafensabel im Nu eroberte. Ich
meine, man würde sich besinnen, eine solche Masse räudiger Schafe
in den frommen Schafstall aufzunehmen. Die deutschen Ausländer
sind keine artigen Schulknaben, sondern trotzige Buben, die dem
Schulmeister schier entwachsen sind. Und dann: Deutschland hat jetzt
keine Zeit, sich mit dergleichen Chimären abzugeben: es hat Wichti¬
geres zu thun. Untersuchungen über entfernte Anspielungsversuche
und wcltuntergrabende Toaste, Razzias gegen rebellische Zeitungs¬
schreiber und Bücher, religionskriegerische Schattenspiele und dogma¬
tisch-polizeiliche Discusstonen, das sind ganz andere Großthaten, die
dem deutschen Tiefsinn noch in tausend Jahren zum Ruhme gereichen
werden, wenn sie auch nicht geeignet sind, die Deutschen im Auslande
zu erobern.


II.
A u S W i c n.
1.

Saison und Virtuosenthum. — Umschwung des gesellschaftlichen Geistes. —
Theaternovität. — Knoll« Tod und Nachlaß. — Ein Schauspieler in den
Wolken. — Gelehrtensachen. — Wechselseitige Honneurs zwischen Oesterreich
und Griechenland.

Die Saison hat bereits begonnen und die Schaar conzertlustiger
Virtuosen rüstet sich nunmehr, um die Welt mit den Wundern ihrer
Kunst zu erfreuen. Unglücklicher Weise ist aber der Werth dieser
Virtuosenkunst bei uns dergestalt im Preise gesunken, daß sich kaum
noch die gewünschte Theilnahme einstellen wird, ja daß wohlkaumnoch
ein geduldiges Freikartenpublikum zu erwarten ist, welches den eitlen Pia¬
nohelden pflichtschuldigst hervorrufe und seinen Ruhm in Wort und
Schrift ausposaune. Auch auf diesem Felde glaubt man an keine
Wunder mehr und sieht nun recht gut ein, daß das Ganze keine —
Hexerei, sondern bloße Geschwindigkeit ist. Selbst Thalberg, der mit
seiner hübschen Frau zu der Wiege seines Rufes zurückgekehrt ist, hat
diese Wendung der musikalischen Stimmung im Publikum nachgerade
empfinden müssen. Ja, um die Niederlage des Virtuoscnthums recht
glänzend und die Umkehr des öffentlichen Geschmacks zum Natürlichen
und Ursprünglichen augenfällig zu machen, mußte es geschehen, daß
ein von Netzer komponicres, ganz einfaches Lied, welches Staudigl
sang, alle Zuhörer entflammte, indeß die Zauberkünste der Fingerfer-


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[0277] Freiheit mehr zu schonen, wenn es sich hier populär machen und die germanischen Sympathieen der guten Flaum gehörig benutzen wollte. Die deutschen Zeitungen reden freilich viel von ihrem Elsaß, von ihrer Schweiz und ihrem vlämisch Belgien. Aber es fragt sich noch, ob das officielle Deutschland Elsaß, Schweiz und vlämisch Belgien ge¬ schenkt nähme, wenn eine Compagnie nationaler Publicisten all diese schönen Gegenden mit tapferem Phrafensabel im Nu eroberte. Ich meine, man würde sich besinnen, eine solche Masse räudiger Schafe in den frommen Schafstall aufzunehmen. Die deutschen Ausländer sind keine artigen Schulknaben, sondern trotzige Buben, die dem Schulmeister schier entwachsen sind. Und dann: Deutschland hat jetzt keine Zeit, sich mit dergleichen Chimären abzugeben: es hat Wichti¬ geres zu thun. Untersuchungen über entfernte Anspielungsversuche und wcltuntergrabende Toaste, Razzias gegen rebellische Zeitungs¬ schreiber und Bücher, religionskriegerische Schattenspiele und dogma¬ tisch-polizeiliche Discusstonen, das sind ganz andere Großthaten, die dem deutschen Tiefsinn noch in tausend Jahren zum Ruhme gereichen werden, wenn sie auch nicht geeignet sind, die Deutschen im Auslande zu erobern. II. A u S W i c n. 1. Saison und Virtuosenthum. — Umschwung des gesellschaftlichen Geistes. — Theaternovität. — Knoll« Tod und Nachlaß. — Ein Schauspieler in den Wolken. — Gelehrtensachen. — Wechselseitige Honneurs zwischen Oesterreich und Griechenland. Die Saison hat bereits begonnen und die Schaar conzertlustiger Virtuosen rüstet sich nunmehr, um die Welt mit den Wundern ihrer Kunst zu erfreuen. Unglücklicher Weise ist aber der Werth dieser Virtuosenkunst bei uns dergestalt im Preise gesunken, daß sich kaum noch die gewünschte Theilnahme einstellen wird, ja daß wohlkaumnoch ein geduldiges Freikartenpublikum zu erwarten ist, welches den eitlen Pia¬ nohelden pflichtschuldigst hervorrufe und seinen Ruhm in Wort und Schrift ausposaune. Auch auf diesem Felde glaubt man an keine Wunder mehr und sieht nun recht gut ein, daß das Ganze keine — Hexerei, sondern bloße Geschwindigkeit ist. Selbst Thalberg, der mit seiner hübschen Frau zu der Wiege seines Rufes zurückgekehrt ist, hat diese Wendung der musikalischen Stimmung im Publikum nachgerade empfinden müssen. Ja, um die Niederlage des Virtuoscnthums recht glänzend und die Umkehr des öffentlichen Geschmacks zum Natürlichen und Ursprünglichen augenfällig zu machen, mußte es geschehen, daß ein von Netzer komponicres, ganz einfaches Lied, welches Staudigl sang, alle Zuhörer entflammte, indeß die Zauberkünste der Fingerfer- Brenzboten. I»is. IV. 35

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 4, 1845, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341548_271260/277>, abgerufen am 05.02.2025.