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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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nicht beachten oder gar bespötteln möchte, kann einem Deutschen das
Blut zu Kopfe jagen. Das praktische, thatcnliebende' Frankreich ist
das Land der Prosa. Wollt Ihr den Franzosen ergreifen, müßt Ihr
rhetorisch auf ihn wirken. Der Weg zu seinem Herzen geht durch
seinen Kopf. Das unpraktische, ttäumerische Deutschland ist das Land
des Verses; will man den Deutschen hinreißen, muß man nicht rhe¬
torisch, man muß lyrisch ihn aufzuregen suchen. ' Der Weg zu sei¬
nem Kopfe geht durch sein Herz. Frankreich besitzt eine sehr
mäßige Zahl großer Dichter, dasür aber eine glänzende Reihe der
herrlichsten Rhetoren. Deutschland zählt einen Phalanx der erhaben¬
sten Dichter, aber, an Rednern ist's ärmer als jedes andere Volk der
Welt, weil es das unpraktischste unter allen ist.


II.

Um eine rasche Uebersicht über die lyrischen Produktionen der
deutschen Poesie zu gewinnen, wollen wir sie in vier Hauptabteilun¬
gen einreihen, nach den vier Hauptideen, welche die moderne Welt
am Meisten bewegen: Religion, Kunst, Philosophie und Staat.'

Die Religion war fast bei allen Völkern die erste Quelle und
Urheberin der Dichtung ; um wie viel mehr in Deutschland, wo der
Glaube immer einen saftigen Boden fand. Eigentlich ist jedes Ge¬
bet'M, und für sich schon Poesie, da es einen Schwung, eine Erhe¬
bung zu dem Übersinnlichen voraussetzt. Die Form thut hier weni¬
ger zur Sache als, bei andern Gattungen,'und wo finden, daß eine
lateinische Messe, die von dem gemeinen Volke nicht verstanden wird/
dennoch mit derselben Andacht, mit derselben Gottergebung, gebetet
wird, als wie das klarste und verständigste Kirchenlied aus Wetzels
Chorbuch. Die reinere Kunstform der religiösen Poesie der Deutschen
beginnt in Luthers Zeit, und erreicht durch Haller, Klopstock, Stoll-'
barg, -Tiedge, Novalis ihren Höhepunkt. ' Die deutsche Poesie hat
ihrer innersten Natur gemäß auf diesem Felde mit' besonderer Vor¬
liebe sich angebaut; ja, es gab sogar eine Zeit, wo die religiöse Poesie
alle andere zu verschlingen drohte. Es war dieß zu der Epoche Klop-
stocks, wo die Messiade zu tausend Nachahmungen lockte, und die
deutschen Dichter, welche damals noch in den Kinderjahren standen,
in Her religiösen Poesie ein Universalrezept sahen, welches ohnfehlbar'
die Unsterblichkeit verleiht. Das war eine sonderbare Zeit, wo Bot-


nicht beachten oder gar bespötteln möchte, kann einem Deutschen das
Blut zu Kopfe jagen. Das praktische, thatcnliebende' Frankreich ist
das Land der Prosa. Wollt Ihr den Franzosen ergreifen, müßt Ihr
rhetorisch auf ihn wirken. Der Weg zu seinem Herzen geht durch
seinen Kopf. Das unpraktische, ttäumerische Deutschland ist das Land
des Verses; will man den Deutschen hinreißen, muß man nicht rhe¬
torisch, man muß lyrisch ihn aufzuregen suchen. ' Der Weg zu sei¬
nem Kopfe geht durch sein Herz. Frankreich besitzt eine sehr
mäßige Zahl großer Dichter, dasür aber eine glänzende Reihe der
herrlichsten Rhetoren. Deutschland zählt einen Phalanx der erhaben¬
sten Dichter, aber, an Rednern ist's ärmer als jedes andere Volk der
Welt, weil es das unpraktischste unter allen ist.


II.

Um eine rasche Uebersicht über die lyrischen Produktionen der
deutschen Poesie zu gewinnen, wollen wir sie in vier Hauptabteilun¬
gen einreihen, nach den vier Hauptideen, welche die moderne Welt
am Meisten bewegen: Religion, Kunst, Philosophie und Staat.'

Die Religion war fast bei allen Völkern die erste Quelle und
Urheberin der Dichtung ; um wie viel mehr in Deutschland, wo der
Glaube immer einen saftigen Boden fand. Eigentlich ist jedes Ge¬
bet'M, und für sich schon Poesie, da es einen Schwung, eine Erhe¬
bung zu dem Übersinnlichen voraussetzt. Die Form thut hier weni¬
ger zur Sache als, bei andern Gattungen,'und wo finden, daß eine
lateinische Messe, die von dem gemeinen Volke nicht verstanden wird/
dennoch mit derselben Andacht, mit derselben Gottergebung, gebetet
wird, als wie das klarste und verständigste Kirchenlied aus Wetzels
Chorbuch. Die reinere Kunstform der religiösen Poesie der Deutschen
beginnt in Luthers Zeit, und erreicht durch Haller, Klopstock, Stoll-'
barg, -Tiedge, Novalis ihren Höhepunkt. ' Die deutsche Poesie hat
ihrer innersten Natur gemäß auf diesem Felde mit' besonderer Vor¬
liebe sich angebaut; ja, es gab sogar eine Zeit, wo die religiöse Poesie
alle andere zu verschlingen drohte. Es war dieß zu der Epoche Klop-
stocks, wo die Messiade zu tausend Nachahmungen lockte, und die
deutschen Dichter, welche damals noch in den Kinderjahren standen,
in Her religiösen Poesie ein Universalrezept sahen, welches ohnfehlbar'
die Unsterblichkeit verleiht. Das war eine sonderbare Zeit, wo Bot-


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[0616] nicht beachten oder gar bespötteln möchte, kann einem Deutschen das Blut zu Kopfe jagen. Das praktische, thatcnliebende' Frankreich ist das Land der Prosa. Wollt Ihr den Franzosen ergreifen, müßt Ihr rhetorisch auf ihn wirken. Der Weg zu seinem Herzen geht durch seinen Kopf. Das unpraktische, ttäumerische Deutschland ist das Land des Verses; will man den Deutschen hinreißen, muß man nicht rhe¬ torisch, man muß lyrisch ihn aufzuregen suchen. ' Der Weg zu sei¬ nem Kopfe geht durch sein Herz. Frankreich besitzt eine sehr mäßige Zahl großer Dichter, dasür aber eine glänzende Reihe der herrlichsten Rhetoren. Deutschland zählt einen Phalanx der erhaben¬ sten Dichter, aber, an Rednern ist's ärmer als jedes andere Volk der Welt, weil es das unpraktischste unter allen ist. II. Um eine rasche Uebersicht über die lyrischen Produktionen der deutschen Poesie zu gewinnen, wollen wir sie in vier Hauptabteilun¬ gen einreihen, nach den vier Hauptideen, welche die moderne Welt am Meisten bewegen: Religion, Kunst, Philosophie und Staat.' Die Religion war fast bei allen Völkern die erste Quelle und Urheberin der Dichtung ; um wie viel mehr in Deutschland, wo der Glaube immer einen saftigen Boden fand. Eigentlich ist jedes Ge¬ bet'M, und für sich schon Poesie, da es einen Schwung, eine Erhe¬ bung zu dem Übersinnlichen voraussetzt. Die Form thut hier weni¬ ger zur Sache als, bei andern Gattungen,'und wo finden, daß eine lateinische Messe, die von dem gemeinen Volke nicht verstanden wird/ dennoch mit derselben Andacht, mit derselben Gottergebung, gebetet wird, als wie das klarste und verständigste Kirchenlied aus Wetzels Chorbuch. Die reinere Kunstform der religiösen Poesie der Deutschen beginnt in Luthers Zeit, und erreicht durch Haller, Klopstock, Stoll-' barg, -Tiedge, Novalis ihren Höhepunkt. ' Die deutsche Poesie hat ihrer innersten Natur gemäß auf diesem Felde mit' besonderer Vor¬ liebe sich angebaut; ja, es gab sogar eine Zeit, wo die religiöse Poesie alle andere zu verschlingen drohte. Es war dieß zu der Epoche Klop- stocks, wo die Messiade zu tausend Nachahmungen lockte, und die deutschen Dichter, welche damals noch in den Kinderjahren standen, in Her religiösen Poesie ein Universalrezept sahen, welches ohnfehlbar' die Unsterblichkeit verleiht. Das war eine sonderbare Zeit, wo Bot-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/616>, abgerufen am 22.07.2024.