Das fünfte Capitel Von poetischen Sendschreiben oder Briefen.
SO gut andre Leute in ungebundner Rede an einan- der schreiben können; so leicht kan ein Poet solches in gebundner Schreibart thun. Wie es aber dort eine besondre Kunst ist, ein schönes Schreiben abzufassen: so ist es auch nicht eines jeden Werck einen guten poetischen Brief zu machen. Ja in gewisser Absicht ist dieses noch schwerer. Jn prosaischen Briefen macht man zuweilen lauter Complimenten und unnütze Umschweife in Worten, so durch die Höflichkeit eingeführet worden. Man schreibt auch offt von nöthigen Angelegenheiten und Hausgeschäff- ten, die sonst niemand wissen mag oder soll, als den sie an- gehen. Jn der Poesie würde es aber lächerlich seyn, solche Briefe zu schreiben. Sie müssen allezeit gewisse Materien betreffen, die allerley Lesern nützlich und angenehm seyn können. Sie complimentiren daher nicht viel; sondern gehen gerade zu, daher es denn auch kommt, daß man in Verßen alle Titel und Ehren-Worte der vornehmsten Per- sonen zu vermeiden pflegt.
Die alten Römer und Griechen haben uns sehr schöne Muster solcher Briefe hinterlassen. Einen guten Theil davon haben wir schon im vorigen Capitel, unter den Ele- gien betrachtet: Es ist aber noch eine andre Art übrig, die eine besondre Abhandlung verdient. Dort herrschte, nach dem Character der Elegie, ein zärtliches und trauriges We- sen: hier ist der Jnnhalt geruhig und ernsthafft, zuweilen schertzhafft, auch wohl moralisch und satirisch. Wie nun in jener Art Ovidius sonderlich ein Meister gewesen, so ha- ben wir in dieser Gattung den Horatz zum Muster. Unter den Frantzosen ist Boileau unvergleichlich darinnen. Wer des Frantzösischen nicht mächtig ist, kan meine Ubersetzung von dem Schreiben desselben an den König in dem VIIten
Theile
Des II Theils V Capitel
Das fuͤnfte Capitel Von poetiſchen Sendſchreiben oder Briefen.
SO gut andre Leute in ungebundner Rede an einan- der ſchreiben koͤnnen; ſo leicht kan ein Poet ſolches in gebundner Schreibart thun. Wie es aber dort eine beſondre Kunſt iſt, ein ſchoͤnes Schreiben abzufaſſen: ſo iſt es auch nicht eines jeden Werck einen guten poetiſchen Brief zu machen. Ja in gewiſſer Abſicht iſt dieſes noch ſchwerer. Jn proſaiſchen Briefen macht man zuweilen lauter Complimenten und unnuͤtze Umſchweife in Worten, ſo durch die Hoͤflichkeit eingefuͤhret worden. Man ſchreibt auch offt von noͤthigen Angelegenheiten und Hausgeſchaͤff- ten, die ſonſt niemand wiſſen mag oder ſoll, als den ſie an- gehen. Jn der Poeſie wuͤrde es aber laͤcherlich ſeyn, ſolche Briefe zu ſchreiben. Sie muͤſſen allezeit gewiſſe Materien betreffen, die allerley Leſern nuͤtzlich und angenehm ſeyn koͤnnen. Sie complimentiren daher nicht viel; ſondern gehen gerade zu, daher es denn auch kommt, daß man in Verßen alle Titel und Ehren-Worte der vornehmſten Per- ſonen zu vermeiden pflegt.
Die alten Roͤmer und Griechen haben uns ſehr ſchoͤne Muſter ſolcher Briefe hinterlaſſen. Einen guten Theil davon haben wir ſchon im vorigen Capitel, unter den Ele- gien betrachtet: Es iſt aber noch eine andre Art uͤbrig, die eine beſondre Abhandlung verdient. Dort herrſchte, nach dem Character der Elegie, ein zaͤrtliches und trauriges We- ſen: hier iſt der Jnnhalt geruhig und ernſthafft, zuweilen ſchertzhafft, auch wohl moraliſch und ſatiriſch. Wie nun in jener Art Ovidius ſonderlich ein Meiſter geweſen, ſo ha- ben wir in dieſer Gattung den Horatz zum Muſter. Unter den Frantzoſen iſt Boileau unvergleichlich darinnen. Wer des Frantzoͤſiſchen nicht maͤchtig iſt, kan meine Uberſetzung von dem Schreiben deſſelben an den Koͤnig in dem VIIten
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Des II Theils V Capitel
Das fuͤnfte Capitel
Von poetiſchen Sendſchreiben
oder Briefen.
SO gut andre Leute in ungebundner Rede an einan-
der ſchreiben koͤnnen; ſo leicht kan ein Poet ſolches
in gebundner Schreibart thun. Wie es aber dort
eine beſondre Kunſt iſt, ein ſchoͤnes Schreiben abzufaſſen:
ſo iſt es auch nicht eines jeden Werck einen guten poetiſchen
Brief zu machen. Ja in gewiſſer Abſicht iſt dieſes noch
ſchwerer. Jn proſaiſchen Briefen macht man zuweilen
lauter Complimenten und unnuͤtze Umſchweife in Worten,
ſo durch die Hoͤflichkeit eingefuͤhret worden. Man ſchreibt
auch offt von noͤthigen Angelegenheiten und Hausgeſchaͤff-
ten, die ſonſt niemand wiſſen mag oder ſoll, als den ſie an-
gehen. Jn der Poeſie wuͤrde es aber laͤcherlich ſeyn, ſolche
Briefe zu ſchreiben. Sie muͤſſen allezeit gewiſſe Materien
betreffen, die allerley Leſern nuͤtzlich und angenehm ſeyn
koͤnnen. Sie complimentiren daher nicht viel; ſondern
gehen gerade zu, daher es denn auch kommt, daß man in
Verßen alle Titel und Ehren-Worte der vornehmſten Per-
ſonen zu vermeiden pflegt.
Die alten Roͤmer und Griechen haben uns ſehr ſchoͤne
Muſter ſolcher Briefe hinterlaſſen. Einen guten Theil
davon haben wir ſchon im vorigen Capitel, unter den Ele-
gien betrachtet: Es iſt aber noch eine andre Art uͤbrig, die
eine beſondre Abhandlung verdient. Dort herrſchte, nach
dem Character der Elegie, ein zaͤrtliches und trauriges We-
ſen: hier iſt der Jnnhalt geruhig und ernſthafft, zuweilen
ſchertzhafft, auch wohl moraliſch und ſatiriſch. Wie nun
in jener Art Ovidius ſonderlich ein Meiſter geweſen, ſo ha-
ben wir in dieſer Gattung den Horatz zum Muſter. Unter
den Frantzoſen iſt Boileau unvergleichlich darinnen. Wer
des Frantzoͤſiſchen nicht maͤchtig iſt, kan meine Uberſetzung
von dem Schreiben deſſelben an den Koͤnig in dem VIIten
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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/462>, abgerufen am 21.11.2024.
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