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Goeze, Johann August Ephraim: Zeitvertreib und Unterricht für Kinder vom dritten bis zehnten Jahr in kleinen Geschichten. Bd. 2. Leipzig, 1783.

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Wilhelm. Das kann ich freylich nicht.

Erich. Also siehst du, wie wenig Grund
ein solches Geschwätz hat. Der Mensch wäre
doch wohl gestorben, wenn auch kein Vogel
dahin gekommen wäre. Ein andermal ruft
er vor oder in dem Hause eines Kranken, bey
dem man aufs Ende wartet. So weiß ichs,
daß er einmal vierzehn Tage hinter einander,
Tag und Nacht oben in der Bodenluke einer
alten Frau saß, und unaufhörlich schrie. Die
Frau war einige siebenzig Jahre alt, und hat-
te schon über ein Vierteljahr gelegen. Da
sagten alle Leute: Nu! die wird gewiß reisen
müssen. Und sie lebt noch. Also triffts unter
hundertmalen nicht einmal ein.

Wilhelm. Aber was sagen Sie zu dem
Exempel, das die Mutter vorher anführte?

Erich. Das läßt sich bald erklären. Der
Vogel gehöret unter die Aasvögel, und hat
eine erstaunlich starke Witterung. Das heißt:

er
L 4

Wilhelm. Das kann ich freylich nicht.

Erich. Alſo ſiehſt du, wie wenig Grund
ein ſolches Geſchwaͤtz hat. Der Menſch waͤre
doch wohl geſtorben, wenn auch kein Vogel
dahin gekommen waͤre. Ein andermal ruft
er vor oder in dem Hauſe eines Kranken, bey
dem man aufs Ende wartet. So weiß ichs,
daß er einmal vierzehn Tage hinter einander,
Tag und Nacht oben in der Bodenluke einer
alten Frau ſaß, und unaufhoͤrlich ſchrie. Die
Frau war einige ſiebenzig Jahre alt, und hat-
te ſchon uͤber ein Vierteljahr gelegen. Da
ſagten alle Leute: Nu! die wird gewiß reiſen
muͤſſen. Und ſie lebt noch. Alſo triffts unter
hundertmalen nicht einmal ein.

Wilhelm. Aber was ſagen Sie zu dem
Exempel, das die Mutter vorher anfuͤhrte?

Erich. Das laͤßt ſich bald erklaͤren. Der
Vogel gehoͤret unter die Aasvoͤgel, und hat
eine erſtaunlich ſtarke Witterung. Das heißt:

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[167/0189] Wilhelm. Das kann ich freylich nicht. Erich. Alſo ſiehſt du, wie wenig Grund ein ſolches Geſchwaͤtz hat. Der Menſch waͤre doch wohl geſtorben, wenn auch kein Vogel dahin gekommen waͤre. Ein andermal ruft er vor oder in dem Hauſe eines Kranken, bey dem man aufs Ende wartet. So weiß ichs, daß er einmal vierzehn Tage hinter einander, Tag und Nacht oben in der Bodenluke einer alten Frau ſaß, und unaufhoͤrlich ſchrie. Die Frau war einige ſiebenzig Jahre alt, und hat- te ſchon uͤber ein Vierteljahr gelegen. Da ſagten alle Leute: Nu! die wird gewiß reiſen muͤſſen. Und ſie lebt noch. Alſo triffts unter hundertmalen nicht einmal ein. Wilhelm. Aber was ſagen Sie zu dem Exempel, das die Mutter vorher anfuͤhrte? Erich. Das laͤßt ſich bald erklaͤren. Der Vogel gehoͤret unter die Aasvoͤgel, und hat eine erſtaunlich ſtarke Witterung. Das heißt: er L 4

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Zitationshilfe: Goeze, Johann August Ephraim: Zeitvertreib und Unterricht für Kinder vom dritten bis zehnten Jahr in kleinen Geschichten. Bd. 2. Leipzig, 1783, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goetze_zeitvertreib02_1783/189>, abgerufen am 26.04.2024.