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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Wenn ich nicht schon hundertmal auf dem Punkte
gestanden bin ihr um den Hals zu fallen.
Weis der große Gott, wie einem das thut, so viel
Liebenswürdigkeit vor sich herumkreuzen zu sehn und
nicht zugreifen zu dürfen. Und das Zugreifen ist
doch der natürlichste Trieb der Menschheit. Grei-
fen die Kinder nicht nach allem was ihnen in Sinn
fällt? Und ich?




Weis Gott, ich lege mich so oft zu Bette mit
dem Wunsche, ja manchmal mit der Hof-
nung, nicht wieder zu erwachen, und Morgens
schlag ich die Augen auf, sehe die Sonne wieder,
und bin elend. O daß ich launisch seyn könnte,
könnte die Schuld auf's Wetter, auf einen drit-
ten, auf eine fehlgeschlagene Unternehmung schie-
hen; so würde die unerträgliche Last des Unwillens
doch nur halb auf mir ruhen. Weh mir, ich
fühle zu wahr, daß an mir allein alle Schuld

liegt,





Wenn ich nicht ſchon hundertmal auf dem Punkte
geſtanden bin ihr um den Hals zu fallen.
Weis der große Gott, wie einem das thut, ſo viel
Liebenswuͤrdigkeit vor ſich herumkreuzen zu ſehn und
nicht zugreifen zu duͤrfen. Und das Zugreifen iſt
doch der natuͤrlichſte Trieb der Menſchheit. Grei-
fen die Kinder nicht nach allem was ihnen in Sinn
faͤllt? Und ich?




Weis Gott, ich lege mich ſo oft zu Bette mit
dem Wunſche, ja manchmal mit der Hof-
nung, nicht wieder zu erwachen, und Morgens
ſchlag ich die Augen auf, ſehe die Sonne wieder,
und bin elend. O daß ich launiſch ſeyn koͤnnte,
koͤnnte die Schuld auf’s Wetter, auf einen drit-
ten, auf eine fehlgeſchlagene Unternehmung ſchie-
hen; ſo wuͤrde die unertraͤgliche Laſt des Unwillens
doch nur halb auf mir ruhen. Weh mir, ich
fuͤhle zu wahr, daß an mir allein alle Schuld

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[156/0044] am 30. Oktober. Wenn ich nicht ſchon hundertmal auf dem Punkte geſtanden bin ihr um den Hals zu fallen. Weis der große Gott, wie einem das thut, ſo viel Liebenswuͤrdigkeit vor ſich herumkreuzen zu ſehn und nicht zugreifen zu duͤrfen. Und das Zugreifen iſt doch der natuͤrlichſte Trieb der Menſchheit. Grei- fen die Kinder nicht nach allem was ihnen in Sinn faͤllt? Und ich? am 3. November. Weis Gott, ich lege mich ſo oft zu Bette mit dem Wunſche, ja manchmal mit der Hof- nung, nicht wieder zu erwachen, und Morgens ſchlag ich die Augen auf, ſehe die Sonne wieder, und bin elend. O daß ich launiſch ſeyn koͤnnte, koͤnnte die Schuld auf’s Wetter, auf einen drit- ten, auf eine fehlgeſchlagene Unternehmung ſchie- hen; ſo wuͤrde die unertraͤgliche Laſt des Unwillens doch nur halb auf mir ruhen. Weh mir, ich fuͤhle zu wahr, daß an mir allein alle Schuld liegt,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/44>, abgerufen am 21.11.2024.