Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.anständigen Vermögen an bis auf den Geist, kei- ne Stüzze hat, als die Reihe ihrer Vorfahren, kei- nen Schirm, als den Stand, in dem sie sich ver- pallisadirt, und kein Ergözzen, als von ihrem Stok- werk herab über die bürgerlichen Häupter weg zu sehen. Jn ihrer Jugend soll sie schön gewesen seyn, und ihr Leben so weggegaukelt, erst mit ih- rem Eigensinne manchen armen Jungen gequält, und in reifern Jahren sich unter den Gehorsam eines alten Offiziers gedukt haben, der gegen die- sen Preis und einen leidlichen Unterhalt das ehr- ne Jahrhundert mit ihr zubrachte, und starb, und nun sieht sie im eisernen sich allein, und würde nicht angesehn, wär ihre Nichte nicht so liebens- würdig. den 8. Jan. 1772. Was das für Menschen sind, deren ganze See- keine
anſtaͤndigen Vermoͤgen an bis auf den Geiſt, kei- ne Stuͤzze hat, als die Reihe ihrer Vorfahren, kei- nen Schirm, als den Stand, in dem ſie ſich ver- palliſadirt, und kein Ergoͤzzen, als von ihrem Stok- werk herab uͤber die buͤrgerlichen Haͤupter weg zu ſehen. Jn ihrer Jugend ſoll ſie ſchoͤn geweſen ſeyn, und ihr Leben ſo weggegaukelt, erſt mit ih- rem Eigenſinne manchen armen Jungen gequaͤlt, und in reifern Jahren ſich unter den Gehorſam eines alten Offiziers gedukt haben, der gegen die- ſen Preis und einen leidlichen Unterhalt das ehr- ne Jahrhundert mit ihr zubrachte, und ſtarb, und nun ſieht ſie im eiſernen ſich allein, und wuͤrde nicht angeſehn, waͤr ihre Nichte nicht ſo liebens- wuͤrdig. den 8. Jan. 1772. Was das fuͤr Menſchen ſind, deren ganze See- keine
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anſtaͤndigen Vermoͤgen an bis auf den Geiſt, kei-
ne Stuͤzze hat, als die Reihe ihrer Vorfahren, kei-
nen Schirm, als den Stand, in dem ſie ſich ver-
palliſadirt, und kein Ergoͤzzen, als von ihrem Stok-
werk herab uͤber die buͤrgerlichen Haͤupter weg zu
ſehen. Jn ihrer Jugend ſoll ſie ſchoͤn geweſen
ſeyn, und ihr Leben ſo weggegaukelt, erſt mit ih-
rem Eigenſinne manchen armen Jungen gequaͤlt,
und in reifern Jahren ſich unter den Gehorſam
eines alten Offiziers gedukt haben, der gegen die-
ſen Preis und einen leidlichen Unterhalt das ehr-
ne Jahrhundert mit ihr zubrachte, und ſtarb, und
nun ſieht ſie im eiſernen ſich allein, und wuͤrde
nicht angeſehn, waͤr ihre Nichte nicht ſo liebens-
wuͤrdig.
den 8. Jan. 1772.
Was das fuͤr Menſchen ſind, deren ganze See-
le auf dem Ceremoniel ruht, deren Dich-
ten und Trachten Jahre lang dahin geht, wie ſie
um einen Stuhl weiter hinauf bey Tiſche ſich ein-
ſchieben wollen. Und nicht, daß die Kerls ſonſt
keine
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/11>, abgerufen am 03.07.2024. |