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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774.

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Alles ist so still um mich her, und so ruhig mei-
ne Seele, ich danke dir Gott, der du diesen
lezten Augenblikken diese Wärme, diese Kraft
schenkest.

Jch trete an's Fenster, meine Beste, und seh
und sehe noch durch die stürmenden vorüberfliehen-
den Wolken einzelne Sterne des ewigen Him-
mels! Nein, ihr werdet nicht fallen! Der Ewi-
ge trägt euch an seinem Herzen, und mich. Jch
sah die Deichselsterne des Wagens, des liebsten un-
ter allen Gestirnen. Wenn ich Nachts von dir
ging, wie ich aus deinem Thore trat, stand er gegen
über! Mit welcher Trunkenheit hab ich ihn oft
angesehen! Oft mit aufgehabenen Händen ihn zum
Zeichen, zum heiligen Merksteine meiner gegenwär-
tigen Seligkeit gemacht, und noch -- O Lotte, was
erinnert mich nicht an dich! Umgiebst du mich
nicht, und hab ich nicht gleich einem Kinde, unge-
nügsam allerley Kleinigkeiten zu mir gerissen, die
du Heilige berührt hattest!

Liebes Schattenbild! Jch vermache dir's zu-
rük, Lotte, und bitte dich es zu ehren. Tausend, tau-

send





Alles iſt ſo ſtill um mich her, und ſo ruhig mei-
ne Seele, ich danke dir Gott, der du dieſen
lezten Augenblikken dieſe Waͤrme, dieſe Kraft
ſchenkeſt.

Jch trete an’s Fenſter, meine Beſte, und ſeh
und ſehe noch durch die ſtuͤrmenden voruͤberfliehen-
den Wolken einzelne Sterne des ewigen Him-
mels! Nein, ihr werdet nicht fallen! Der Ewi-
ge traͤgt euch an ſeinem Herzen, und mich. Jch
ſah die Deichſelſterne des Wagens, des liebſten un-
ter allen Geſtirnen. Wenn ich Nachts von dir
ging, wie ich aus deinem Thore trat, ſtand er gegen
uͤber! Mit welcher Trunkenheit hab ich ihn oft
angeſehen! Oft mit aufgehabenen Haͤnden ihn zum
Zeichen, zum heiligen Merkſteine meiner gegenwaͤr-
tigen Seligkeit gemacht, und noch — O Lotte, was
erinnert mich nicht an dich! Umgiebſt du mich
nicht, und hab ich nicht gleich einem Kinde, unge-
nuͤgſam allerley Kleinigkeiten zu mir geriſſen, die
du Heilige beruͤhrt hatteſt!

Liebes Schattenbild! Jch vermache dir’s zu-
ruͤk, Lotte, und bitte dich es zu ehren. Tauſend, tau-

ſend
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[219/0107] nach eilfe. Alles iſt ſo ſtill um mich her, und ſo ruhig mei- ne Seele, ich danke dir Gott, der du dieſen lezten Augenblikken dieſe Waͤrme, dieſe Kraft ſchenkeſt. Jch trete an’s Fenſter, meine Beſte, und ſeh und ſehe noch durch die ſtuͤrmenden voruͤberfliehen- den Wolken einzelne Sterne des ewigen Him- mels! Nein, ihr werdet nicht fallen! Der Ewi- ge traͤgt euch an ſeinem Herzen, und mich. Jch ſah die Deichſelſterne des Wagens, des liebſten un- ter allen Geſtirnen. Wenn ich Nachts von dir ging, wie ich aus deinem Thore trat, ſtand er gegen uͤber! Mit welcher Trunkenheit hab ich ihn oft angeſehen! Oft mit aufgehabenen Haͤnden ihn zum Zeichen, zum heiligen Merkſteine meiner gegenwaͤr- tigen Seligkeit gemacht, und noch — O Lotte, was erinnert mich nicht an dich! Umgiebſt du mich nicht, und hab ich nicht gleich einem Kinde, unge- nuͤgſam allerley Kleinigkeiten zu mir geriſſen, die du Heilige beruͤhrt hatteſt! Liebes Schattenbild! Jch vermache dir’s zu- ruͤk, Lotte, und bitte dich es zu ehren. Tauſend, tau- ſend

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 2. Leipzig, 1774, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther02_1774/107>, abgerufen am 21.11.2024.