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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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faßt ich das all mit warmen Herzen, verlohr mich
in der unendlichen Fülle, und die herrlichen Ge-
stalten der unendlichen Welt bewegten sich alllebend
in meiner Seele. Ungeheure Berge umgaben mich,
Abgründe lagen vor mir, und Wetterbäche stürzten
herunter, die Flüsse strömten unter mir, und
Wald und Gebürg erklang. Und ich sah sie wür-
ken und schaffen in einander in den Tiefen der Er-
de, all die Kräfte unergründlich. Und nun über
der Erde und unter dem Himmel wimmeln die Ge-
schlechter der Geschöpfe all, und alles, alles bevöl-
kert mit tausendfachen Gestalten, und die Men-
schen dann sich in Häuslein zusammen sichern, und
sich annisten, und herrschen in ihrem Sinne über
die weite Welt! Armer Thor, der du alles so ge-
ring achtest, weil du so klein bist. Vom unzu-
gänglichen Gebürge über die Einöde, die kein Fuß
betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans,
weht der Geist des Ewigschaffenden und freut sich
jedes Staubs, der ihn vernimmt und lebt. Ach
damals, wie oft hab ich mich mit Fittigen eines
Kranichs, der über mich hinflog, zu dem Ufer des

un-



faßt ich das all mit warmen Herzen, verlohr mich
in der unendlichen Fuͤlle, und die herrlichen Ge-
ſtalten der unendlichen Welt bewegten ſich alllebend
in meiner Seele. Ungeheure Berge umgaben mich,
Abgruͤnde lagen vor mir, und Wetterbaͤche ſtuͤrzten
herunter, die Fluͤſſe ſtroͤmten unter mir, und
Wald und Gebuͤrg erklang. Und ich ſah ſie wuͤr-
ken und ſchaffen in einander in den Tiefen der Er-
de, all die Kraͤfte unergruͤndlich. Und nun uͤber
der Erde und unter dem Himmel wimmeln die Ge-
ſchlechter der Geſchoͤpfe all, und alles, alles bevoͤl-
kert mit tauſendfachen Geſtalten, und die Men-
ſchen dann ſich in Haͤuslein zuſammen ſichern, und
ſich anniſten, und herrſchen in ihrem Sinne uͤber
die weite Welt! Armer Thor, der du alles ſo ge-
ring achteſt, weil du ſo klein biſt. Vom unzu-
gaͤnglichen Gebuͤrge uͤber die Einoͤde, die kein Fuß
betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans,
weht der Geiſt des Ewigſchaffenden und freut ſich
jedes Staubs, der ihn vernimmt und lebt. Ach
damals, wie oft hab ich mich mit Fittigen eines
Kranichs, der uͤber mich hinflog, zu dem Ufer des

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[93/0093] faßt ich das all mit warmen Herzen, verlohr mich in der unendlichen Fuͤlle, und die herrlichen Ge- ſtalten der unendlichen Welt bewegten ſich alllebend in meiner Seele. Ungeheure Berge umgaben mich, Abgruͤnde lagen vor mir, und Wetterbaͤche ſtuͤrzten herunter, die Fluͤſſe ſtroͤmten unter mir, und Wald und Gebuͤrg erklang. Und ich ſah ſie wuͤr- ken und ſchaffen in einander in den Tiefen der Er- de, all die Kraͤfte unergruͤndlich. Und nun uͤber der Erde und unter dem Himmel wimmeln die Ge- ſchlechter der Geſchoͤpfe all, und alles, alles bevoͤl- kert mit tauſendfachen Geſtalten, und die Men- ſchen dann ſich in Haͤuslein zuſammen ſichern, und ſich anniſten, und herrſchen in ihrem Sinne uͤber die weite Welt! Armer Thor, der du alles ſo ge- ring achteſt, weil du ſo klein biſt. Vom unzu- gaͤnglichen Gebuͤrge uͤber die Einoͤde, die kein Fuß betrat, bis ans Ende des unbekannten Ozeans, weht der Geiſt des Ewigſchaffenden und freut ſich jedes Staubs, der ihn vernimmt und lebt. Ach damals, wie oft hab ich mich mit Fittigen eines Kranichs, der uͤber mich hinflog, zu dem Ufer des un-

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/93>, abgerufen am 26.04.2024.