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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Wort neue Reize, neue Strahlen des Geistes aus
ihren Gesichtszügen hervorbrechen, die sich nach
und nach vergnügt zu entfalten schienen, weil
sie an mir fühlte, daß ich sie verstund.

Wie ich jünger war, sagte sie, liebte ich nichts
so sehr als die Romanen. Weis Gott wie wohl
mir's war, mich so Sonntags in ein Eckgen zu
sezzen, und mit ganzem Herzen an dem Glükke und
Unstern einer Miß Jenny Theil zu nehmen. Jch
läugne auch nicht, daß die Art noch einige Reize
für mich hat. Doch da ich so selten an ein Buch
komme, so müssen sie auch recht nach meinem Ge-
schmakke seyn. Und der Autor ist mir der liebste,
indem ich meine Welt wieder finde, bey dem's
zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir
doch so interessant so herzlich wird, als mein ei-
gen häuslich Leben, das freylich kein Paradies,
aber doch im Ganzen eine Quelle unsäglicher
Glükseligkeit ist.

Jch bemühte mich, meine Bewegungen über
diese Worte zu verbergen. Das gieng freylich
nicht weit, denn da ich sie mit solcher Wahrheit

im



Wort neue Reize, neue Strahlen des Geiſtes aus
ihren Geſichtszuͤgen hervorbrechen, die ſich nach
und nach vergnuͤgt zu entfalten ſchienen, weil
ſie an mir fuͤhlte, daß ich ſie verſtund.

Wie ich juͤnger war, ſagte ſie, liebte ich nichts
ſo ſehr als die Romanen. Weis Gott wie wohl
mir’s war, mich ſo Sonntags in ein Eckgen zu
ſezzen, und mit ganzem Herzen an dem Gluͤkke und
Unſtern einer Miß Jenny Theil zu nehmen. Jch
laͤugne auch nicht, daß die Art noch einige Reize
fuͤr mich hat. Doch da ich ſo ſelten an ein Buch
komme, ſo muͤſſen ſie auch recht nach meinem Ge-
ſchmakke ſeyn. Und der Autor iſt mir der liebſte,
indem ich meine Welt wieder finde, bey dem’s
zugeht wie um mich, und deſſen Geſchichte mir
doch ſo intereſſant ſo herzlich wird, als mein ei-
gen haͤuslich Leben, das freylich kein Paradies,
aber doch im Ganzen eine Quelle unſaͤglicher
Gluͤkſeligkeit iſt.

Jch bemuͤhte mich, meine Bewegungen uͤber
dieſe Worte zu verbergen. Das gieng freylich
nicht weit, denn da ich ſie mit ſolcher Wahrheit

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[34/0034] Wort neue Reize, neue Strahlen des Geiſtes aus ihren Geſichtszuͤgen hervorbrechen, die ſich nach und nach vergnuͤgt zu entfalten ſchienen, weil ſie an mir fuͤhlte, daß ich ſie verſtund. Wie ich juͤnger war, ſagte ſie, liebte ich nichts ſo ſehr als die Romanen. Weis Gott wie wohl mir’s war, mich ſo Sonntags in ein Eckgen zu ſezzen, und mit ganzem Herzen an dem Gluͤkke und Unſtern einer Miß Jenny Theil zu nehmen. Jch laͤugne auch nicht, daß die Art noch einige Reize fuͤr mich hat. Doch da ich ſo ſelten an ein Buch komme, ſo muͤſſen ſie auch recht nach meinem Ge- ſchmakke ſeyn. Und der Autor iſt mir der liebſte, indem ich meine Welt wieder finde, bey dem’s zugeht wie um mich, und deſſen Geſchichte mir doch ſo intereſſant ſo herzlich wird, als mein ei- gen haͤuslich Leben, das freylich kein Paradies, aber doch im Ganzen eine Quelle unſaͤglicher Gluͤkſeligkeit iſt. Jch bemuͤhte mich, meine Bewegungen uͤber dieſe Worte zu verbergen. Das gieng freylich nicht weit, denn da ich ſie mit ſolcher Wahrheit im

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/34>, abgerufen am 26.04.2024.