Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.schöpfe! Auch denen ists wohl, die ihren Lumpen- beschäftigungen, oder wohl gar ihren Leidenschaf- ten prächtige Titel geben, und sie dem Menschen- geschlechte als Riesenoperationen zu dessen Heil und Wohlfahrt anschreiben. Wohl dem, der so seyn kann! Wer aber in seiner Demuth erkennt, wo das alles hinausläuft, der so sieht, wie artig jeder Bürger, dem's wohl ist, sein Gärtchen zum Para- diese zuzustuzzen weis, und wie unverdrossen dann doch auch der Unglükliche unter der Bürde seinen Weg fortkeicht, und alle gleich interessirt sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehn, ja! der ist still und bildet auch seine Welt aus sich selbst, und ist auch glüklich, weil er ein Mensch ist. Und dann, so eingeschränkt er ist, hält er doch immer im Herzen das süsse Gefühl von Freyheit, und daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will. am 26. May. Du kennst von Alters her meine Art, mich an- Ein- B 2
ſchoͤpfe! Auch denen iſts wohl, die ihren Lumpen- beſchaͤftigungen, oder wohl gar ihren Leidenſchaf- ten praͤchtige Titel geben, und ſie dem Menſchen- geſchlechte als Rieſenoperationen zu deſſen Heil und Wohlfahrt anſchreiben. Wohl dem, der ſo ſeyn kann! Wer aber in ſeiner Demuth erkennt, wo das alles hinauslaͤuft, der ſo ſieht, wie artig jeder Buͤrger, dem’s wohl iſt, ſein Gaͤrtchen zum Para- dieſe zuzuſtuzzen weis, und wie unverdroſſen dann doch auch der Ungluͤkliche unter der Buͤrde ſeinen Weg fortkeicht, und alle gleich intereſſirt ſind, das Licht dieſer Sonne noch eine Minute laͤnger zu ſehn, ja! der iſt ſtill und bildet auch ſeine Welt aus ſich ſelbſt, und iſt auch gluͤklich, weil er ein Menſch iſt. Und dann, ſo eingeſchraͤnkt er iſt, haͤlt er doch immer im Herzen das ſuͤſſe Gefuͤhl von Freyheit, und daß er dieſen Kerker verlaſſen kann, wann er will. am 26. May. Du kennſt von Alters her meine Art, mich an- Ein- B 2
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ſchoͤpfe! Auch denen iſts wohl, die ihren Lumpen-
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geſchlechte als Rieſenoperationen zu deſſen Heil und
Wohlfahrt anſchreiben. Wohl dem, der ſo ſeyn
kann! Wer aber in ſeiner Demuth erkennt, wo
das alles hinauslaͤuft, der ſo ſieht, wie artig jeder
Buͤrger, dem’s wohl iſt, ſein Gaͤrtchen zum Para-
dieſe zuzuſtuzzen weis, und wie unverdroſſen dann
doch auch der Ungluͤkliche unter der Buͤrde ſeinen
Weg fortkeicht, und alle gleich intereſſirt ſind, das
Licht dieſer Sonne noch eine Minute laͤnger zu
ſehn, ja! der iſt ſtill und bildet auch ſeine Welt
aus ſich ſelbſt, und iſt auch gluͤklich, weil er ein
Menſch iſt. Und dann, ſo eingeſchraͤnkt er iſt,
haͤlt er doch immer im Herzen das ſuͤſſe Gefuͤhl
von Freyheit, und daß er dieſen Kerker verlaſſen kann,
wann er will.
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zubauen, irgend mir an einem vertraulichen
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