Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.unstet hast Du nichts gesehn als dieses Herz. Lie- ber! Brauch ich Dir das zu sagen, der Du so oft die Last getragen hast, mich vom Kummer zur Aus- schweifung, und von süsser Melancholie zur ver- derblichen Leidenschaft übergehn zu sehn. Auch halt ich mein Herzgen wie ein krankes Kind, all sein Wille wird ihm gestattet. Sag das nicht weiter, es giebt Leute, die mir's verübeln würden. am 15. May. Die geringen Leute des Orts kennen mich schon, sich
unſtet haſt Du nichts geſehn als dieſes Herz. Lie- ber! Brauch ich Dir das zu ſagen, der Du ſo oft die Laſt getragen haſt, mich vom Kummer zur Aus- ſchweifung, und von ſuͤſſer Melancholie zur ver- derblichen Leidenſchaft uͤbergehn zu ſehn. Auch halt ich mein Herzgen wie ein krankes Kind, all ſein Wille wird ihm geſtattet. Sag das nicht weiter, es giebt Leute, die mir’s veruͤbeln wuͤrden. am 15. May. Die geringen Leute des Orts kennen mich ſchon, ſich
<TEI> <text> <body> <div type="diaryEntry"> <p><pb facs="#f0012" n="12"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> unſtet haſt Du nichts geſehn als dieſes Herz. Lie-<lb/> ber! Brauch ich Dir das zu ſagen, der Du ſo oft<lb/> die Laſt getragen haſt, mich vom Kummer zur Aus-<lb/> ſchweifung, und von ſuͤſſer Melancholie zur ver-<lb/> derblichen Leidenſchaft uͤbergehn zu ſehn. Auch<lb/> halt ich mein Herzgen wie ein krankes Kind, all ſein<lb/> Wille wird ihm geſtattet. Sag das nicht weiter,<lb/> es giebt Leute, die mir’s veruͤbeln wuͤrden.</p><lb/> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="diaryEntry"> <dateline> <hi rendition="#et">am 15. May.</hi> </dateline><lb/> <p><hi rendition="#in">D</hi>ie geringen Leute des Orts kennen mich ſchon,<lb/> und lieben mich, beſonders die Kinder. Eine<lb/> traurige Bemerkung hab ich gemacht. Wie ich im<lb/> Anfange mich zu ihnen geſellte, ſie freundſchaftlich<lb/> fragte uͤber dieß und das, glaubten einige, ich wollte<lb/> ihrer ſpotten, und fertigten mich wol gar grob ab.<lb/> Jch ließ mich das nicht verdrieſſen, nur fuͤhlt ich,<lb/> was ich ſchon oft bemerkt habe, auf das lebhafteſte.<lb/> Leute von einigem Stande werden ſich immer in<lb/> kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als<lb/> glaubten ſie durch Annaͤherung zu verlieren, und<lb/> dann giebts Fluͤchtlinge und uͤble Spasvoͤgel, die<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ſich</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [12/0012]
unſtet haſt Du nichts geſehn als dieſes Herz. Lie-
ber! Brauch ich Dir das zu ſagen, der Du ſo oft
die Laſt getragen haſt, mich vom Kummer zur Aus-
ſchweifung, und von ſuͤſſer Melancholie zur ver-
derblichen Leidenſchaft uͤbergehn zu ſehn. Auch
halt ich mein Herzgen wie ein krankes Kind, all ſein
Wille wird ihm geſtattet. Sag das nicht weiter,
es giebt Leute, die mir’s veruͤbeln wuͤrden.
am 15. May.
Die geringen Leute des Orts kennen mich ſchon,
und lieben mich, beſonders die Kinder. Eine
traurige Bemerkung hab ich gemacht. Wie ich im
Anfange mich zu ihnen geſellte, ſie freundſchaftlich
fragte uͤber dieß und das, glaubten einige, ich wollte
ihrer ſpotten, und fertigten mich wol gar grob ab.
Jch ließ mich das nicht verdrieſſen, nur fuͤhlt ich,
was ich ſchon oft bemerkt habe, auf das lebhafteſte.
Leute von einigem Stande werden ſich immer in
kalter Entfernung vom gemeinen Volke halten, als
glaubten ſie durch Annaͤherung zu verlieren, und
dann giebts Fluͤchtlinge und uͤble Spasvoͤgel, die
ſich
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/12 |
Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/12>, abgerufen am 22.02.2025. |