Unglüklicher! Bist du nicht ein Thor? Be- trügst du dich nicht selbst? Was soll all diese tobende endlose Leidenschaft? Jch habe kein Gebet mehr, als an sie, meiner Einbildungskraft erscheint keine andere Gestalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her, sehe ich nur im Verhältnisse mit ihr. Und das macht mir denn so manche glük- liche Stunde -- Bis ich mich wieder von ihr losreißen muß, ach Wilhelm, wozu mich mein Herz oft drängt! -- Wenn ich so bey ihr gesessen bin, zwey, drey Stunden, und mich an der Gestalt, an dem Betragen, an dem himmlischen Ausdruk ihrer Worte geweidet habe, und nun so nach und nach alle meine Sinnen aufgespannt werden, mir's düster vor den Augen wird, ich kaum was noch höre, und mich's an die Gurgel faßt, wie ein Meu-
chel-
am 30. Aug.
Ungluͤklicher! Biſt du nicht ein Thor? Be- truͤgſt du dich nicht ſelbſt? Was ſoll all dieſe tobende endloſe Leidenſchaft? Jch habe kein Gebet mehr, als an ſie, meiner Einbildungskraft erſcheint keine andere Geſtalt als die ihrige, und alles in der Welt um mich her, ſehe ich nur im Verhaͤltniſſe mit ihr. Und das macht mir denn ſo manche gluͤk- liche Stunde — Bis ich mich wieder von ihr losreißen muß, ach Wilhelm, wozu mich mein Herz oft draͤngt! — Wenn ich ſo bey ihr geſeſſen bin, zwey, drey Stunden, und mich an der Geſtalt, an dem Betragen, an dem himmliſchen Ausdruk ihrer Worte geweidet habe, und nun ſo nach und nach alle meine Sinnen aufgeſpannt werden, mir’s duͤſter vor den Augen wird, ich kaum was noch hoͤre, und mich’s an die Gurgel faßt, wie ein Meu-
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am 30. Aug.
Ungluͤklicher! Biſt du nicht ein Thor? Be-
truͤgſt du dich nicht ſelbſt? Was ſoll all dieſe
tobende endloſe Leidenſchaft? Jch habe kein Gebet
mehr, als an ſie, meiner Einbildungskraft erſcheint
keine andere Geſtalt als die ihrige, und alles in der
Welt um mich her, ſehe ich nur im Verhaͤltniſſe
mit ihr. Und das macht mir denn ſo manche gluͤk-
liche Stunde — Bis ich mich wieder von ihr
losreißen muß, ach Wilhelm, wozu mich mein Herz
oft draͤngt! — Wenn ich ſo bey ihr geſeſſen bin,
zwey, drey Stunden, und mich an der Geſtalt, an
dem Betragen, an dem himmliſchen Ausdruk ihrer
Worte geweidet habe, und nun ſo nach und nach
alle meine Sinnen aufgeſpannt werden, mir’s
duͤſter vor den Augen wird, ich kaum was noch
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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/100>, abgerufen am 03.03.2025.
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