Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Leipzig, 1787.Iphigenie auf Tauris Fünfter Auftritt. Iphigenie. Ich muß ihm folgen: denn die Meinigen Seh' ich in dringender Gefahr. Doch ach! Mein eigen Schicksal macht mir bang' und bänger. O soll ich nicht die stille Hoffnung retten, Die in der Einsamkeit ich schön genährt? Soll dieser Fluch denn ewig walten? Soll Nie dieß Geschlecht mit einem neuen Segen Sich wieder heben? -- Nimmt doch alles ab! Das beste Glück, des Lebens schönste Kraft Ermattet endlich! Warum nicht der Fluch? So hofft' ich denn vergebens, hier verwahrt, Von meines Hauses Schicksal abgeschieden, Dereinst mit reiner Hand und reinem Herzen Die schwer befleckte Wohnung zu entsühnen. Kaum wird in meinen Armen mir ein Bruder Vom grimm'gen Übel wundervoll und schnell Geheilt; kaum naht ein lang' erflehtes Schiff Mich in den Port der Vaterwelt zu leiten: Iphigenie auf Tauris Fünfter Auftritt. Iphigenie. Ich muß ihm folgen: denn die Meinigen Seh’ ich in dringender Gefahr. Doch ach! Mein eigen Schickſal macht mir bang’ und bänger. O ſoll ich nicht die ſtille Hoffnung retten, Die in der Einſamkeit ich ſchön genährt? Soll dieſer Fluch denn ewig walten? Soll Nie dieß Geſchlecht mit einem neuen Segen Sich wieder heben? — Nimmt doch alles ab! Das beſte Glück, des Lebens ſchönſte Kraft Ermattet endlich! Warum nicht der Fluch? So hofft’ ich denn vergebens, hier verwahrt, Von meines Hauſes Schickſal abgeſchieden, Dereinſt mit reiner Hand und reinem Herzen Die ſchwer befleckte Wohnung zu entſühnen. Kaum wird in meinen Armen mir ein Bruder Vom grimm’gen Übel wundervoll und ſchnell Geheilt; kaum naht ein lang’ erflehtes Schiff Mich in den Port der Vaterwelt zu leiten: <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <sp who="#PYL"> <pb facs="#f0113" n="104"/> <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#g">Iphigenie auf Tauris</hi> </fw> </sp> </div><lb/> <div n="3"> <head><hi rendition="#g">Fünfter Auftritt</hi>.</head><lb/> <sp who="#IPH"> <speaker> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Iphigenie</hi>.</hi> </speaker><lb/> <p>Ich muß ihm folgen: denn die Meinigen<lb/> Seh’ ich in dringender Gefahr. Doch ach!<lb/> Mein eigen Schickſal macht mir bang’ und<lb/> bänger.<lb/> O ſoll ich nicht die ſtille Hoffnung retten,<lb/> Die in der Einſamkeit ich ſchön genährt?<lb/> Soll dieſer Fluch denn ewig walten? Soll<lb/> Nie dieß Geſchlecht mit einem neuen Segen<lb/> Sich wieder heben? — Nimmt doch alles ab!<lb/> Das beſte Glück, des Lebens ſchönſte Kraft<lb/> Ermattet endlich! Warum nicht der Fluch?<lb/> So hofft’ ich denn vergebens, hier verwahrt,<lb/> Von meines Hauſes Schickſal abgeſchieden,<lb/> Dereinſt mit reiner Hand und reinem Herzen<lb/> Die ſchwer befleckte Wohnung zu entſühnen.<lb/> Kaum wird in meinen Armen mir ein Bruder<lb/> Vom grimm’gen Übel wundervoll und ſchnell<lb/> Geheilt; kaum naht ein lang’ erflehtes Schiff<lb/> Mich in den Port der Vaterwelt zu leiten:<lb/></p> </sp> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [104/0113]
Iphigenie auf Tauris
Fünfter Auftritt.
Iphigenie.
Ich muß ihm folgen: denn die Meinigen
Seh’ ich in dringender Gefahr. Doch ach!
Mein eigen Schickſal macht mir bang’ und
bänger.
O ſoll ich nicht die ſtille Hoffnung retten,
Die in der Einſamkeit ich ſchön genährt?
Soll dieſer Fluch denn ewig walten? Soll
Nie dieß Geſchlecht mit einem neuen Segen
Sich wieder heben? — Nimmt doch alles ab!
Das beſte Glück, des Lebens ſchönſte Kraft
Ermattet endlich! Warum nicht der Fluch?
So hofft’ ich denn vergebens, hier verwahrt,
Von meines Hauſes Schickſal abgeſchieden,
Dereinſt mit reiner Hand und reinem Herzen
Die ſchwer befleckte Wohnung zu entſühnen.
Kaum wird in meinen Armen mir ein Bruder
Vom grimm’gen Übel wundervoll und ſchnell
Geheilt; kaum naht ein lang’ erflehtes Schiff
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Zitationshilfe: | Goethe, Johann Wolfgang von: Iphigenie auf Tauris. Leipzig, 1787, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_iphigenie_1787/113>, abgerufen am 07.07.2024. |