Die Newtonische Schule mochte sich indessen ge- bärden, wie sie wollte. Es war nun so oft von vie- len bedeutenden Männern, in so vielen Schriften, welche gleichsam jeden Tag wirksam waren: denn die Sache wurde lebhaft betrieben; es war ausgesprochen worden, daß Newton sich in einem Hauptpunkte geirrt habe, und mehr als alle Worte sprachen dieß die diop- trischen Fernröhre auf Sternwarten und Mastbäumen, in den Händen der Forscher und der Privatleute, im- mer lauter und unwidersprechlicher aus.
Der Mensch, wir haben schon früher darauf ap- püyirt, unterwirft sich eben so gern der Autorität, als er sich derselben entzieht; es kommt bloß auf die Epo- chen an, die ihn zu dem einen oder dem andern ver- anlassen. In der gegenwärtigen Epoche der Farben- lehre erhielten nunmehr jüngere, geistreichere, ernst und treu gesinnte Menschen eine gewisse Halbfrey- heit, die weil sie keinen Punct der Vereinigung vor sich sah, einen Jeden auf sich selbst zurückwies, eines Jeden eigne Ansichten, Lieblingsmeynungen, Grillen hervorrief, und so zwar manchem Guten förderlich war, dagegen aber auch eine Art von Anarchie weis- sagte und vorbereitete, welche in unsern Tagen völlig erschienen ist.
Uebergang.
Die Newtoniſche Schule mochte ſich indeſſen ge- baͤrden, wie ſie wollte. Es war nun ſo oft von vie- len bedeutenden Maͤnnern, in ſo vielen Schriften, welche gleichſam jeden Tag wirkſam waren: denn die Sache wurde lebhaft betrieben; es war ausgeſprochen worden, daß Newton ſich in einem Hauptpunkte geirrt habe, und mehr als alle Worte ſprachen dieß die diop- triſchen Fernroͤhre auf Sternwarten und Maſtbaͤumen, in den Haͤnden der Forſcher und der Privatleute, im- mer lauter und unwiderſprechlicher aus.
Der Menſch, wir haben ſchon fruͤher darauf ap- puͤyirt, unterwirft ſich eben ſo gern der Autoritaͤt, als er ſich derſelben entzieht; es kommt bloß auf die Epo- chen an, die ihn zu dem einen oder dem andern ver- anlaſſen. In der gegenwaͤrtigen Epoche der Farben- lehre erhielten nunmehr juͤngere, geiſtreichere, ernſt und treu geſinnte Menſchen eine gewiſſe Halbfrey- heit, die weil ſie keinen Punct der Vereinigung vor ſich ſah, einen Jeden auf ſich ſelbſt zuruͤckwies, eines Jeden eigne Anſichten, Lieblingsmeynungen, Grillen hervorrief, und ſo zwar manchem Guten foͤrderlich war, dagegen aber auch eine Art von Anarchie weiſ- ſagte und vorbereitete, welche in unſern Tagen voͤllig erſchienen iſt.
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Uebergang.
Die Newtoniſche Schule mochte ſich indeſſen ge-
baͤrden, wie ſie wollte. Es war nun ſo oft von vie-
len bedeutenden Maͤnnern, in ſo vielen Schriften,
welche gleichſam jeden Tag wirkſam waren: denn die
Sache wurde lebhaft betrieben; es war ausgeſprochen
worden, daß Newton ſich in einem Hauptpunkte geirrt
habe, und mehr als alle Worte ſprachen dieß die diop-
triſchen Fernroͤhre auf Sternwarten und Maſtbaͤumen,
in den Haͤnden der Forſcher und der Privatleute, im-
mer lauter und unwiderſprechlicher aus.
Der Menſch, wir haben ſchon fruͤher darauf ap-
puͤyirt, unterwirft ſich eben ſo gern der Autoritaͤt, als
er ſich derſelben entzieht; es kommt bloß auf die Epo-
chen an, die ihn zu dem einen oder dem andern ver-
anlaſſen. In der gegenwaͤrtigen Epoche der Farben-
lehre erhielten nunmehr juͤngere, geiſtreichere, ernſt
und treu geſinnte Menſchen eine gewiſſe Halbfrey-
heit, die weil ſie keinen Punct der Vereinigung vor
ſich ſah, einen Jeden auf ſich ſelbſt zuruͤckwies, eines
Jeden eigne Anſichten, Lieblingsmeynungen, Grillen
hervorrief, und ſo zwar manchem Guten foͤrderlich
war, dagegen aber auch eine Art von Anarchie weiſ-
ſagte und vorbereitete, welche in unſern Tagen voͤllig
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/626>, abgerufen am 21.11.2024.
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