Wenn der denkende Geschichtsforscher mit Betrüb- niß bemerken muß, daß Wahrheit so wenig als Glück einen dauerhaften Sitz auf der Erde gewinnen können, da dieses mit manchem Unheil, jene mit manchem Irrthum beständig abzuwechseln hat; so ist es ihm desto erfreulicher, zu sehen, wenn die Wahrheit auch in Zeiten wo sie nicht durchdringen kann, nur gleich- sam eine Protestation einlegt, um ihre Rechte, wo nicht zu behaupten, doch zu verwahren.
Mit dieser vergnüglichen Empfindung lesen wir vorstehende Schrift, die wir den Freunden der Wissen- schaft nicht genug empfehlen können. Sie ist verfaßt von einem unbebekannten, unbedeutenden französischen Geistlichen, der zu derselben Zeit den echten Funda- menten der Farbenlehre ganz nahe tritt und seine Ue- berzeugungen einfach und naiv ausspricht, als eben Newton von allem Glanze des Ruhms umgeben seine Optik bekannt macht, um mit dem wunderlichsten al- ler Irrthümer ein ganzes Jahrhundert zu stempeln.
Ein solcher Vorgang ist keinesweges wunderbar: denn außerordentliche Menschen üben eine solche Ge- walt aus, daß sie ganz bequem ihre zufälligen Irrthü- mer fortpflanzen, indeß weniger begabte und beglückte keine Mittel finden, ihren wohleingesehenen Wahrheiten Raum zu machen.
Betrachtungen uͤber vorſtehende Abhandlung.
Wenn der denkende Geſchichtsforſcher mit Betruͤb- niß bemerken muß, daß Wahrheit ſo wenig als Gluͤck einen dauerhaften Sitz auf der Erde gewinnen koͤnnen, da dieſes mit manchem Unheil, jene mit manchem Irrthum beſtaͤndig abzuwechſeln hat; ſo iſt es ihm deſto erfreulicher, zu ſehen, wenn die Wahrheit auch in Zeiten wo ſie nicht durchdringen kann, nur gleich- ſam eine Proteſtation einlegt, um ihre Rechte, wo nicht zu behaupten, doch zu verwahren.
Mit dieſer vergnuͤglichen Empfindung leſen wir vorſtehende Schrift, die wir den Freunden der Wiſſen- ſchaft nicht genug empfehlen koͤnnen. Sie iſt verfaßt von einem unbebekannten, unbedeutenden franzoͤſiſchen Geiſtlichen, der zu derſelben Zeit den echten Funda- menten der Farbenlehre ganz nahe tritt und ſeine Ue- berzeugungen einfach und naiv ausſpricht, als eben Newton von allem Glanze des Ruhms umgeben ſeine Optik bekannt macht, um mit dem wunderlichſten al- ler Irrthuͤmer ein ganzes Jahrhundert zu ſtempeln.
Ein ſolcher Vorgang iſt keinesweges wunderbar: denn außerordentliche Menſchen uͤben eine ſolche Ge- walt aus, daß ſie ganz bequem ihre zufaͤlligen Irrthuͤ- mer fortpflanzen, indeß weniger begabte und begluͤckte keine Mittel finden, ihren wohleingeſehenen Wahrheiten Raum zu machen.
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Betrachtungen
uͤber vorſtehende Abhandlung.
Wenn der denkende Geſchichtsforſcher mit Betruͤb-
niß bemerken muß, daß Wahrheit ſo wenig als Gluͤck
einen dauerhaften Sitz auf der Erde gewinnen koͤnnen,
da dieſes mit manchem Unheil, jene mit manchem
Irrthum beſtaͤndig abzuwechſeln hat; ſo iſt es ihm
deſto erfreulicher, zu ſehen, wenn die Wahrheit auch
in Zeiten wo ſie nicht durchdringen kann, nur gleich-
ſam eine Proteſtation einlegt, um ihre Rechte, wo
nicht zu behaupten, doch zu verwahren.
Mit dieſer vergnuͤglichen Empfindung leſen wir
vorſtehende Schrift, die wir den Freunden der Wiſſen-
ſchaft nicht genug empfehlen koͤnnen. Sie iſt verfaßt
von einem unbebekannten, unbedeutenden franzoͤſiſchen
Geiſtlichen, der zu derſelben Zeit den echten Funda-
menten der Farbenlehre ganz nahe tritt und ſeine Ue-
berzeugungen einfach und naiv ausſpricht, als eben
Newton von allem Glanze des Ruhms umgeben ſeine
Optik bekannt macht, um mit dem wunderlichſten al-
ler Irrthuͤmer ein ganzes Jahrhundert zu ſtempeln.
Ein ſolcher Vorgang iſt keinesweges wunderbar:
denn außerordentliche Menſchen uͤben eine ſolche Ge-
walt aus, daß ſie ganz bequem ihre zufaͤlligen Irrthuͤ-
mer fortpflanzen, indeß weniger begabte und begluͤckte
keine Mittel finden, ihren wohleingeſehenen Wahrheiten
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/377>, abgerufen am 21.11.2024.
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