rücktritt, desto mehr zieht es sich, nicht allein herab- wärts, sondern auch in sich selbst zusammen, dergestalt, daß der violette Saum immer kürzer wird. Endlich erscheint die Mitte weiß und nur die Gränzen des Bildes gefärbt. Steht der Beobachter genau so weit als das erste Prisma, wodurch das farbige Bild ent- stand, so erscheint es ihm nunmehr subjectiv farblos. Tritt er weiter zurück, so färbt es sich im umgekehrten Sinne herabwärts. Ist man doppelt soweit zurückge- treten, als das erste Prisma von der Wand steht, so sieht man mit freyem Auge das aufstrebende, durch das zweyte Prisma aber das herabstrebende umgekehrte gleich stark gefärbte Bild; woraus soviel abermals erhellt, daß jenes erste Bild an der Wand keinesweges ein fertiges, im Ganzen und in seinen Theilen unveränderliches We- sen sey, sondern daß es seiner Natur nach zwar be- stimmt, aber doch wieder bestimmbar und zwar bis zum Gegensatz bestimmbar, gefunden werde.
144.
Was nun von dem ganzen Bilde gilt, das gilt auch von seinen Theilen. Man fasse das ganze Bild, ehe es zur gedachten Tafel gelangt, mit einer durchlö- cherten Zwischentafel auf, und man stelle sich so, daß man zugleich das ganze Bild auf der Zwischentafel und die einzelnen verschiedenfarbigen Bilder auf der Haupt- tafel sehen könne. Nun beginne man den vorigen Ver- such. Man trete ganz nahe zur Haupttafel und betrachte durchs horizontale Prisma die vereinzelt übereinander stehenden farbigen Bilder; man wird sie, nach Verhält-
ruͤcktritt, deſto mehr zieht es ſich, nicht allein herab- waͤrts, ſondern auch in ſich ſelbſt zuſammen, dergeſtalt, daß der violette Saum immer kuͤrzer wird. Endlich erſcheint die Mitte weiß und nur die Graͤnzen des Bildes gefaͤrbt. Steht der Beobachter genau ſo weit als das erſte Prisma, wodurch das farbige Bild ent- ſtand, ſo erſcheint es ihm nunmehr ſubjectiv farblos. Tritt er weiter zuruͤck, ſo faͤrbt es ſich im umgekehrten Sinne herabwaͤrts. Iſt man doppelt ſoweit zuruͤckge- treten, als das erſte Prisma von der Wand ſteht, ſo ſieht man mit freyem Auge das aufſtrebende, durch das zweyte Prisma aber das herabſtrebende umgekehrte gleich ſtark gefaͤrbte Bild; woraus ſoviel abermals erhellt, daß jenes erſte Bild an der Wand keinesweges ein fertiges, im Ganzen und in ſeinen Theilen unveraͤnderliches We- ſen ſey, ſondern daß es ſeiner Natur nach zwar be- ſtimmt, aber doch wieder beſtimmbar und zwar bis zum Gegenſatz beſtimmbar, gefunden werde.
144.
Was nun von dem ganzen Bilde gilt, das gilt auch von ſeinen Theilen. Man faſſe das ganze Bild, ehe es zur gedachten Tafel gelangt, mit einer durchloͤ- cherten Zwiſchentafel auf, und man ſtelle ſich ſo, daß man zugleich das ganze Bild auf der Zwiſchentafel und die einzelnen verſchiedenfarbigen Bilder auf der Haupt- tafel ſehen koͤnne. Nun beginne man den vorigen Ver- ſuch. Man trete ganz nahe zur Haupttafel und betrachte durchs horizontale Prisma die vereinzelt uͤbereinander ſtehenden farbigen Bilder; man wird ſie, nach Verhaͤlt-
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ruͤcktritt, deſto mehr zieht es ſich, nicht allein herab-
waͤrts, ſondern auch in ſich ſelbſt zuſammen, dergeſtalt,
daß der violette Saum immer kuͤrzer wird. Endlich
erſcheint die Mitte weiß und nur die Graͤnzen des
Bildes gefaͤrbt. Steht der Beobachter genau ſo weit
als das erſte Prisma, wodurch das farbige Bild ent-
ſtand, ſo erſcheint es ihm nunmehr ſubjectiv farblos.
Tritt er weiter zuruͤck, ſo faͤrbt es ſich im umgekehrten
Sinne herabwaͤrts. Iſt man doppelt ſoweit zuruͤckge-
treten, als das erſte Prisma von der Wand ſteht, ſo
ſieht man mit freyem Auge das aufſtrebende, durch das
zweyte Prisma aber das herabſtrebende umgekehrte gleich
ſtark gefaͤrbte Bild; woraus ſoviel abermals erhellt, daß
jenes erſte Bild an der Wand keinesweges ein fertiges,
im Ganzen und in ſeinen Theilen unveraͤnderliches We-
ſen ſey, ſondern daß es ſeiner Natur nach zwar be-
ſtimmt, aber doch wieder beſtimmbar und zwar bis zum
Gegenſatz beſtimmbar, gefunden werde.
144.
Was nun von dem ganzen Bilde gilt, das gilt
auch von ſeinen Theilen. Man faſſe das ganze Bild,
ehe es zur gedachten Tafel gelangt, mit einer durchloͤ-
cherten Zwiſchentafel auf, und man ſtelle ſich ſo, daß
man zugleich das ganze Bild auf der Zwiſchentafel und
die einzelnen verſchiedenfarbigen Bilder auf der Haupt-
tafel ſehen koͤnne. Nun beginne man den vorigen Ver-
ſuch. Man trete ganz nahe zur Haupttafel und betrachte
durchs horizontale Prisma die vereinzelt uͤbereinander
ſtehenden farbigen Bilder; man wird ſie, nach Verhaͤlt-
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/493>, abgerufen am 21.11.2024.
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