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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810.

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810.
Gelb fordert Rothblau
Blau fordert Rothgelb
Purpur fordert Grün

und umgekehrt.

811.

Wie der von uns supponirte Zeiger von der Mitte
der von uns naturmäßig geordneten Farben wegrückt;
eben so rückt er mit dem andern Ende in der entge-
gengesetzten Abstufung weiter, und es läßt sich durch
eine solche Vorrichtung zu einer jeden fordernden Farbe
die geforderte bequem bezeichnen. Sich hiezu einen
Farbenkreis zu bilden, der nicht wie der unsre abge-
setzt, sondern in einem stetigen Fortschritte die Farben
und ihre Uebergänge zeigte, würde nicht unnütz seyn:
denn wir stehen hier auf einem sehr wichtigen Punct,
der alle unsre Aufmerksamkeit verdient.

812.

Wurden wir vorher bey dem Beschauen einzelner
Farben gewissermaßen pathologisch afficirt, indem wir
zu einzelnen Empfindungen fortgerissen, uns bald leb-
haft und strebend, bald weich und sehnend, bald zum
Edlen emporgehoben, bald zum Gemeinen herabgezo-
gen fühlten; so führt uns das Bedürfniß nach Tota-
lität, welches unserm Organ eingeboren ist, aus die-
ser Beschränkung heraus; es setzt sich selbst in Frey-
heit, indem es den Gegensatz des ihm aufgedrungenen
Einzelnen und somit eine befriedigende Ganzheit her-
vorbringt.

810.
Gelb fordert Rothblau
Blau fordert Rothgelb
Purpur fordert Gruͤn

und umgekehrt.

811.

Wie der von uns ſupponirte Zeiger von der Mitte
der von uns naturmaͤßig geordneten Farben wegruͤckt;
eben ſo ruͤckt er mit dem andern Ende in der entge-
gengeſetzten Abſtufung weiter, und es laͤßt ſich durch
eine ſolche Vorrichtung zu einer jeden fordernden Farbe
die geforderte bequem bezeichnen. Sich hiezu einen
Farbenkreis zu bilden, der nicht wie der unſre abge-
ſetzt, ſondern in einem ſtetigen Fortſchritte die Farben
und ihre Uebergaͤnge zeigte, wuͤrde nicht unnuͤtz ſeyn:
denn wir ſtehen hier auf einem ſehr wichtigen Punct,
der alle unſre Aufmerkſamkeit verdient.

812.

Wurden wir vorher bey dem Beſchauen einzelner
Farben gewiſſermaßen pathologiſch afficirt, indem wir
zu einzelnen Empfindungen fortgeriſſen, uns bald leb-
haft und ſtrebend, bald weich und ſehnend, bald zum
Edlen emporgehoben, bald zum Gemeinen herabgezo-
gen fuͤhlten; ſo fuͤhrt uns das Beduͤrfniß nach Tota-
litaͤt, welches unſerm Organ eingeboren iſt, aus die-
ſer Beſchraͤnkung heraus; es ſetzt ſich ſelbſt in Frey-
heit, indem es den Gegenſatz des ihm aufgedrungenen
Einzelnen und ſomit eine befriedigende Ganzheit her-
vorbringt.

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[303/0357] 810. Gelb fordert Rothblau Blau fordert Rothgelb Purpur fordert Gruͤn und umgekehrt. 811. Wie der von uns ſupponirte Zeiger von der Mitte der von uns naturmaͤßig geordneten Farben wegruͤckt; eben ſo ruͤckt er mit dem andern Ende in der entge- gengeſetzten Abſtufung weiter, und es laͤßt ſich durch eine ſolche Vorrichtung zu einer jeden fordernden Farbe die geforderte bequem bezeichnen. Sich hiezu einen Farbenkreis zu bilden, der nicht wie der unſre abge- ſetzt, ſondern in einem ſtetigen Fortſchritte die Farben und ihre Uebergaͤnge zeigte, wuͤrde nicht unnuͤtz ſeyn: denn wir ſtehen hier auf einem ſehr wichtigen Punct, der alle unſre Aufmerkſamkeit verdient. 812. Wurden wir vorher bey dem Beſchauen einzelner Farben gewiſſermaßen pathologiſch afficirt, indem wir zu einzelnen Empfindungen fortgeriſſen, uns bald leb- haft und ſtrebend, bald weich und ſehnend, bald zum Edlen emporgehoben, bald zum Gemeinen herabgezo- gen fuͤhlten; ſo fuͤhrt uns das Beduͤrfniß nach Tota- litaͤt, welches unſerm Organ eingeboren iſt, aus die- ſer Beſchraͤnkung heraus; es ſetzt ſich ſelbſt in Frey- heit, indem es den Gegenſatz des ihm aufgedrungenen Einzelnen und ſomit eine befriedigende Ganzheit her- vorbringt.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/357>, abgerufen am 21.11.2024.