Kann dagegen der Physiker zur Erkenntniß desje- nigen gelangen, was wir ein Urphänomen genannt haben; so ist er geborgen und der Philosoph mit ihm; Er, denn er überzeugt sich, daß er an die Gränze seiner Wissenschaft gelangt sey, daß er sich auf der empirischen Höhe befinde, wo er rückwärts die Erfah- rung in allen ihren Stufen überschauen, und vor- wärts in das Reich der Theorie, wo nicht eintreten, doch einblicken könne. Der Philosoph ist geborgen: denn er nimmt aus des Physikers Hand ein Letztes, das bey ihm nun ein Erstes wird. Er bekümmert sich nun mit Recht nicht mehr um die Erscheinung, wenn man darunter das Abgeleitete versteht, wie man es entweder schon wissenschaftlich zusammengestellt findet, oder wie es gar in empirischen Fällen zerstreut und verworren vor die Sinne tritt. Will er ja auch die- sen Weg durchlaufen und einen Blick ins Einzelne nicht verschmähen; so thut er es mit Bequemlichkeit, an- statt daß er bey anderer Behandlung sich entweder zu lange in den Zwischenregionen aufhält, oder sie nur flüchtig durchstreift, ohne sie genau kennen zu lernen.
721.
In diesem Sinne die Farbenlehre dem Philosophen zu nähern, war des Verfassers Wunsch, und wenn ihm solches in der Ausführung selbst aus mancherley Ursa- chen nicht gelungen seyn sollte; so wird er bey Revi- sion seiner Arbeit, bey Recapitulation des Vorgetra- genen, so wie in dem polemischen und historischen
720.
Kann dagegen der Phyſiker zur Erkenntniß desje- nigen gelangen, was wir ein Urphaͤnomen genannt haben; ſo iſt er geborgen und der Philoſoph mit ihm; Er, denn er uͤberzeugt ſich, daß er an die Graͤnze ſeiner Wiſſenſchaft gelangt ſey, daß er ſich auf der empiriſchen Hoͤhe befinde, wo er ruͤckwaͤrts die Erfah- rung in allen ihren Stufen uͤberſchauen, und vor- waͤrts in das Reich der Theorie, wo nicht eintreten, doch einblicken koͤnne. Der Philoſoph iſt geborgen: denn er nimmt aus des Phyſikers Hand ein Letztes, das bey ihm nun ein Erſtes wird. Er bekuͤmmert ſich nun mit Recht nicht mehr um die Erſcheinung, wenn man darunter das Abgeleitete verſteht, wie man es entweder ſchon wiſſenſchaftlich zuſammengeſtellt findet, oder wie es gar in empiriſchen Faͤllen zerſtreut und verworren vor die Sinne tritt. Will er ja auch die- ſen Weg durchlaufen und einen Blick ins Einzelne nicht verſchmaͤhen; ſo thut er es mit Bequemlichkeit, an- ſtatt daß er bey anderer Behandlung ſich entweder zu lange in den Zwiſchenregionen aufhaͤlt, oder ſie nur fluͤchtig durchſtreift, ohne ſie genau kennen zu lernen.
721.
In dieſem Sinne die Farbenlehre dem Philoſophen zu naͤhern, war des Verfaſſers Wunſch, und wenn ihm ſolches in der Ausfuͤhrung ſelbſt aus mancherley Urſa- chen nicht gelungen ſeyn ſollte; ſo wird er bey Revi- ſion ſeiner Arbeit, bey Recapitulation des Vorgetra- genen, ſo wie in dem polemiſchen und hiſtoriſchen
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720.
Kann dagegen der Phyſiker zur Erkenntniß desje-
nigen gelangen, was wir ein Urphaͤnomen genannt
haben; ſo iſt er geborgen und der Philoſoph mit ihm;
Er, denn er uͤberzeugt ſich, daß er an die Graͤnze
ſeiner Wiſſenſchaft gelangt ſey, daß er ſich auf der
empiriſchen Hoͤhe befinde, wo er ruͤckwaͤrts die Erfah-
rung in allen ihren Stufen uͤberſchauen, und vor-
waͤrts in das Reich der Theorie, wo nicht eintreten,
doch einblicken koͤnne. Der Philoſoph iſt geborgen:
denn er nimmt aus des Phyſikers Hand ein Letztes,
das bey ihm nun ein Erſtes wird. Er bekuͤmmert ſich
nun mit Recht nicht mehr um die Erſcheinung, wenn
man darunter das Abgeleitete verſteht, wie man es
entweder ſchon wiſſenſchaftlich zuſammengeſtellt findet,
oder wie es gar in empiriſchen Faͤllen zerſtreut und
verworren vor die Sinne tritt. Will er ja auch die-
ſen Weg durchlaufen und einen Blick ins Einzelne nicht
verſchmaͤhen; ſo thut er es mit Bequemlichkeit, an-
ſtatt daß er bey anderer Behandlung ſich entweder zu
lange in den Zwiſchenregionen aufhaͤlt, oder ſie nur
fluͤchtig durchſtreift, ohne ſie genau kennen zu lernen.
721.
In dieſem Sinne die Farbenlehre dem Philoſophen
zu naͤhern, war des Verfaſſers Wunſch, und wenn ihm
ſolches in der Ausfuͤhrung ſelbſt aus mancherley Urſa-
chen nicht gelungen ſeyn ſollte; ſo wird er bey Revi-
ſion ſeiner Arbeit, bey Recapitulation des Vorgetra-
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/322>, abgerufen am 21.11.2024.
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