Man kann von dem Philosophen nicht verlangen, daß er Physiker sey; und dennoch ist seine Einwirkung auf den physischen Kreis so nothwendig und so wün- schenswerth. Dazu bedarf er nicht des Einzelnen, son- dern nur der Einsicht in jene Endpuncte, wo das Ein- zelne zusammentrifft.
718.
Wir haben früher (175. ff.) dieser wichtigen Betrach- tung im Vorbeygehen erwähnt, und sprechen sie hier, als am schicklichen Orte, nochmals aus. Das schlimm- ste, was der Physik, so wie mancher andern Wissen- schaft, widerfahren kann, ist, daß man das Abge- leitete für das Ursprüngliche hält, und da man das Ursprüngliche aus Abgeleitetem nicht ableiten kann, das Ursprüngliche aus dem Abgeleiteten zu erklären sucht. Dadurch entsteht eine unendliche Verwirrung, ein Wortkram und eine fortdauernde Bemühung, Aus- flüchte zu suchen und zu finden, wo das Wahre nur irgend hervortritt und mächtig werden will.
719.
Indem sich der Beobachter, der Naturforscher auf diese Weise abquält, weil die Erscheinungen der Meynung jederzeit widersprechen; so kann der Philo- soph mit einem falschen Resultate in seiner Sphäre noch immer operiren, indem kein Resultat so falsch ist, daß es nicht, als Form ohne allen Gehalt, auf irgend eine Weise gelten könnte.
717.
Man kann von dem Philoſophen nicht verlangen, daß er Phyſiker ſey; und dennoch iſt ſeine Einwirkung auf den phyſiſchen Kreis ſo nothwendig und ſo wuͤn- ſchenswerth. Dazu bedarf er nicht des Einzelnen, ſon- dern nur der Einſicht in jene Endpuncte, wo das Ein- zelne zuſammentrifft.
718.
Wir haben fruͤher (175. ff.) dieſer wichtigen Betrach- tung im Vorbeygehen erwaͤhnt, und ſprechen ſie hier, als am ſchicklichen Orte, nochmals aus. Das ſchlimm- ſte, was der Phyſik, ſo wie mancher andern Wiſſen- ſchaft, widerfahren kann, iſt, daß man das Abge- leitete fuͤr das Urſpruͤngliche haͤlt, und da man das Urſpruͤngliche aus Abgeleitetem nicht ableiten kann, das Urſpruͤngliche aus dem Abgeleiteten zu erklaͤren ſucht. Dadurch entſteht eine unendliche Verwirrung, ein Wortkram und eine fortdauernde Bemuͤhung, Aus- fluͤchte zu ſuchen und zu finden, wo das Wahre nur irgend hervortritt und maͤchtig werden will.
719.
Indem ſich der Beobachter, der Naturforſcher auf dieſe Weiſe abquaͤlt, weil die Erſcheinungen der Meynung jederzeit widerſprechen; ſo kann der Philo- ſoph mit einem falſchen Reſultate in ſeiner Sphaͤre noch immer operiren, indem kein Reſultat ſo falſch iſt, daß es nicht, als Form ohne allen Gehalt, auf irgend eine Weiſe gelten koͤnnte.
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717.
Man kann von dem Philoſophen nicht verlangen,
daß er Phyſiker ſey; und dennoch iſt ſeine Einwirkung
auf den phyſiſchen Kreis ſo nothwendig und ſo wuͤn-
ſchenswerth. Dazu bedarf er nicht des Einzelnen, ſon-
dern nur der Einſicht in jene Endpuncte, wo das Ein-
zelne zuſammentrifft.
718.
Wir haben fruͤher (175. ff.) dieſer wichtigen Betrach-
tung im Vorbeygehen erwaͤhnt, und ſprechen ſie hier,
als am ſchicklichen Orte, nochmals aus. Das ſchlimm-
ſte, was der Phyſik, ſo wie mancher andern Wiſſen-
ſchaft, widerfahren kann, iſt, daß man das Abge-
leitete fuͤr das Urſpruͤngliche haͤlt, und da man das
Urſpruͤngliche aus Abgeleitetem nicht ableiten kann,
das Urſpruͤngliche aus dem Abgeleiteten zu erklaͤren
ſucht. Dadurch entſteht eine unendliche Verwirrung,
ein Wortkram und eine fortdauernde Bemuͤhung, Aus-
fluͤchte zu ſuchen und zu finden, wo das Wahre nur
irgend hervortritt und maͤchtig werden will.
719.
Indem ſich der Beobachter, der Naturforſcher
auf dieſe Weiſe abquaͤlt, weil die Erſcheinungen der
Meynung jederzeit widerſprechen; ſo kann der Philo-
ſoph mit einem falſchen Reſultate in ſeiner Sphaͤre
noch immer operiren, indem kein Reſultat ſo falſch
iſt, daß es nicht, als Form ohne allen Gehalt, auf
irgend eine Weiſe gelten koͤnnte.
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/321>, abgerufen am 21.11.2024.
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