Zu der subjectiven Erfahrung gelangen wir aber folgendermaßen. Man setze das Auge an die Stelle der Sonne; das Auge schaue gleichfalls in der Dia- gonale über die eine Wand, so daß es die ihm entge- genstehende jenseitige innre Wand-Fläche vollkommen, nichts aber vom Boden sehen könne. Man gieße Was- ser in das Gefäß und das Auge wird nun einen Theil des Bodens gleichfalls erblicken, und zwar geschieht es auf eine Weise, daß wir glauben, wir sehen noch im- mer in gerader Linie: denn der Boden scheint uns her- aufgehoben, daher wir das subjective Phänomen mit dem Namen der Hebung bezeichnen. Einiges, was noch besonders merkwürdig hiebey ist, wird künftig vorgetragen werden.
189.
Sprechen wir dieses Phänomen nunmehr im All- gemeinen aus, so können wir, was wir oben ange- deutet, hier wiederholen: daß nehmlich der Bezug der Gegenstände verändert, verrückt werde.
190.
Da wir aber bey unserer gegenwärtigen Darstel- lung die objectiven Erscheinungen von den subjectiven zu trennen gemeint sind; so sprechen wir das Phäno- men vorerst subjectiv aus, und sagen: es zeige sich eine Verrückung des Gesehenen, oder des zu Sehenden.
191.
Es kann nun aber das unbegränzt Gesehene ver- rückt werden, ohne daß uns die Wirkung bemerklich
188.
Zu der ſubjectiven Erfahrung gelangen wir aber folgendermaßen. Man ſetze das Auge an die Stelle der Sonne; das Auge ſchaue gleichfalls in der Dia- gonale uͤber die eine Wand, ſo daß es die ihm entge- genſtehende jenſeitige innre Wand-Flaͤche vollkommen, nichts aber vom Boden ſehen koͤnne. Man gieße Waſ- ſer in das Gefaͤß und das Auge wird nun einen Theil des Bodens gleichfalls erblicken, und zwar geſchieht es auf eine Weiſe, daß wir glauben, wir ſehen noch im- mer in gerader Linie: denn der Boden ſcheint uns her- aufgehoben, daher wir das ſubjective Phaͤnomen mit dem Namen der Hebung bezeichnen. Einiges, was noch beſonders merkwuͤrdig hiebey iſt, wird kuͤnftig vorgetragen werden.
189.
Sprechen wir dieſes Phaͤnomen nunmehr im All- gemeinen aus, ſo koͤnnen wir, was wir oben ange- deutet, hier wiederholen: daß nehmlich der Bezug der Gegenſtaͤnde veraͤndert, verruͤckt werde.
190.
Da wir aber bey unſerer gegenwaͤrtigen Darſtel- lung die objectiven Erſcheinungen von den ſubjectiven zu trennen gemeint ſind; ſo ſprechen wir das Phaͤno- men vorerſt ſubjectiv aus, und ſagen: es zeige ſich eine Verruͤckung des Geſehenen, oder des zu Sehenden.
191.
Es kann nun aber das unbegraͤnzt Geſehene ver- ruͤckt werden, ohne daß uns die Wirkung bemerklich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0126"n="72"/><divn="4"><head>188.</head><lb/><p>Zu der ſubjectiven Erfahrung gelangen wir aber<lb/>
folgendermaßen. Man ſetze das Auge an die Stelle<lb/>
der Sonne; das Auge ſchaue gleichfalls in der Dia-<lb/>
gonale uͤber die eine Wand, ſo daß es die ihm entge-<lb/>
genſtehende jenſeitige innre Wand-Flaͤche vollkommen,<lb/>
nichts aber vom Boden ſehen koͤnne. Man gieße Waſ-<lb/>ſer in das Gefaͤß und das Auge wird nun einen Theil<lb/>
des Bodens gleichfalls erblicken, und zwar geſchieht es<lb/>
auf eine Weiſe, daß wir glauben, wir ſehen noch im-<lb/>
mer in gerader Linie: denn der Boden ſcheint uns her-<lb/>
aufgehoben, daher wir das ſubjective Phaͤnomen mit<lb/>
dem Namen der Hebung bezeichnen. Einiges, was<lb/>
noch beſonders merkwuͤrdig hiebey iſt, wird kuͤnftig<lb/>
vorgetragen werden.</p></div><lb/><divn="4"><head>189.</head><lb/><p>Sprechen wir dieſes Phaͤnomen nunmehr im All-<lb/>
gemeinen aus, ſo koͤnnen wir, was wir oben ange-<lb/>
deutet, hier wiederholen: daß nehmlich der Bezug der<lb/>
Gegenſtaͤnde veraͤndert, verruͤckt werde.</p></div><lb/><divn="4"><head>190.</head><lb/><p>Da wir aber bey unſerer gegenwaͤrtigen Darſtel-<lb/>
lung die objectiven Erſcheinungen von den ſubjectiven<lb/>
zu trennen gemeint ſind; ſo ſprechen wir das Phaͤno-<lb/>
men vorerſt ſubjectiv aus, und ſagen: es zeige ſich<lb/>
eine Verruͤckung des Geſehenen, oder des zu Sehenden.</p></div><lb/><divn="4"><head>191.</head><lb/><p>Es kann nun aber das unbegraͤnzt Geſehene ver-<lb/>
ruͤckt werden, ohne daß uns die Wirkung bemerklich<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[72/0126]
188.
Zu der ſubjectiven Erfahrung gelangen wir aber
folgendermaßen. Man ſetze das Auge an die Stelle
der Sonne; das Auge ſchaue gleichfalls in der Dia-
gonale uͤber die eine Wand, ſo daß es die ihm entge-
genſtehende jenſeitige innre Wand-Flaͤche vollkommen,
nichts aber vom Boden ſehen koͤnne. Man gieße Waſ-
ſer in das Gefaͤß und das Auge wird nun einen Theil
des Bodens gleichfalls erblicken, und zwar geſchieht es
auf eine Weiſe, daß wir glauben, wir ſehen noch im-
mer in gerader Linie: denn der Boden ſcheint uns her-
aufgehoben, daher wir das ſubjective Phaͤnomen mit
dem Namen der Hebung bezeichnen. Einiges, was
noch beſonders merkwuͤrdig hiebey iſt, wird kuͤnftig
vorgetragen werden.
189.
Sprechen wir dieſes Phaͤnomen nunmehr im All-
gemeinen aus, ſo koͤnnen wir, was wir oben ange-
deutet, hier wiederholen: daß nehmlich der Bezug der
Gegenſtaͤnde veraͤndert, verruͤckt werde.
190.
Da wir aber bey unſerer gegenwaͤrtigen Darſtel-
lung die objectiven Erſcheinungen von den ſubjectiven
zu trennen gemeint ſind; ſo ſprechen wir das Phaͤno-
men vorerſt ſubjectiv aus, und ſagen: es zeige ſich
eine Verruͤckung des Geſehenen, oder des zu Sehenden.
191.
Es kann nun aber das unbegraͤnzt Geſehene ver-
ruͤckt werden, ohne daß uns die Wirkung bemerklich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen, 1810, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre01_1810/126>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.