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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

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Nachtrag.

Höchst merkwürdig ist dass die Persische
Poesie kein Drama hat. Hätte ein drama-
tischer Dichter aufstehen können, ihre
ganze Literatur müsste ein anderes Ansehn
gewonnen haben. Die Nation ist zur Ruhe
geneigt, sie lässt sich gern etwas vorerzäh-
len, daher die Unzahl Mährchen und die
gränzenlosen Gedichte. So ist auch sonst
das orientalische Leben an sich selbst nicht
gesprächig; der Despotismus befördert keine
Wechselreden und wir finden dass eine
jede Einwendung gegen Willen und Befehl
des Herrschers allenfalls nur in Citaten des
Korans und bekannter Dichterstellen her-
vortritt, welches aber zugleich einen geist-
reichen Zustand, Breite, Tiefe und Conse-
quenz der Bildung voraussetzt. Dass je-
doch der Orientale die Gesprächsform so
wenig als ein anderes Volk entbehren mag,

Nachtrag.

Höchst merkwürdig ist daſs die Persische
Poesie kein Drama hat. Hätte ein drama-
tischer Dichter aufstehen können, ihre
ganze Literatur müſste ein anderes Ansehn
gewonnen haben. Die Nation ist zur Ruhe
geneigt, sie läſst sich gern etwas vorerzäh-
len, daher die Unzahl Mährchen und die
gränzenlosen Gedichte. So ist auch sonst
das orientalische Leben an sich selbst nicht
gesprächig; der Despotismus befördert keine
Wechselreden und wir finden daſs eine
jede Einwendung gegen Willen und Befehl
des Herrschers allenfalls nur in Citaten des
Korans und bekannter Dichterstellen her-
vortritt, welches aber zugleich einen geist-
reichen Zustand, Breite, Tiefe und Conse-
quenz der Bildung voraussetzt. Daſs je-
doch der Orientale die Gesprächsform so
wenig als ein anderes Volk entbehren mag,

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[384/0394] Nachtrag. Höchst merkwürdig ist daſs die Persische Poesie kein Drama hat. Hätte ein drama- tischer Dichter aufstehen können, ihre ganze Literatur müſste ein anderes Ansehn gewonnen haben. Die Nation ist zur Ruhe geneigt, sie läſst sich gern etwas vorerzäh- len, daher die Unzahl Mährchen und die gränzenlosen Gedichte. So ist auch sonst das orientalische Leben an sich selbst nicht gesprächig; der Despotismus befördert keine Wechselreden und wir finden daſs eine jede Einwendung gegen Willen und Befehl des Herrschers allenfalls nur in Citaten des Korans und bekannter Dichterstellen her- vortritt, welches aber zugleich einen geist- reichen Zustand, Breite, Tiefe und Conse- quenz der Bildung voraussetzt. Daſs je- doch der Orientale die Gesprächsform so wenig als ein anderes Volk entbehren mag,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/394>, abgerufen am 21.11.2024.