Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

de Iustitia et Iure.
den Zeiten Carls V. sehr veränderte Zustand der teut-
schen Staaten viele Verordnungen der P. Gerichtsord-
nung heutiges Tages ganz unanwendbar. Allein deswe-
gen glaube ich doch nicht, daß die sogenante politi-
sche Gesezauslegung
eine besondere Gattung der
Gesezerklärung ausmache, sondern ich rechne sie mit zur
philosophischen.

§. 35.
Grundsätze der grammatischen Gesezerklärung. Juristi-
sche Critic.

Alle vernünftige Gesezerklärung muß nun also
von grammatischer Entwickelung des Wort-
verstandes
ihren Anfang nehmen. Denn Worte
find Zeichen der Gedanken, und das Mittel, den Wil-
len des Gesetzes zu erkennen 91). Den Sinn der
Worte aber bestimmt der Sprachgebrauch, welcher,
wie der Werth der Münzen, bald ein allgemeiner,
bald ein besonderer seyn kann. Da jedoch Abwei-
chung vom allgemeinen Sprachgebrauch im Zweifel nicht
vermuthet wird, so bildet sich nun hieraus die erste Re-
gel der grammatischen Gesezauslegung: Worte eines
Gesetzes müssen so lang in dem Sinn genom-
men werden, den sie, nach dem gewöhnlichen
Redegebrauch der Nation, für welche das
Gesez bestimmt war, haben, bis andere zu-
sammentreffende besondere Umstände einen
andern nothwendig machen
. Ist aber lezterer
Fall vorhanden, so muß alsdann der beson-

dere
91) Man vergleiche hierbey, was Celsus sagt in L. 7. §. 2.
D. de supell. legat
.
wo besonders der sehr richtige Gedan-
ke vorkommt: etsi prior atque potentior est, quam vox,
mens dicentis, tamen nemo sine voce dixisse, existimatar
.

de Iuſtitia et Iure.
den Zeiten Carls V. ſehr veraͤnderte Zuſtand der teut-
ſchen Staaten viele Verordnungen der P. Gerichtsord-
nung heutiges Tages ganz unanwendbar. Allein deswe-
gen glaube ich doch nicht, daß die ſogenante politi-
ſche Geſezauslegung
eine beſondere Gattung der
Geſezerklaͤrung ausmache, ſondern ich rechne ſie mit zur
philoſophiſchen.

§. 35.
Grundſaͤtze der grammatiſchen Geſezerklaͤrung. Juriſti-
ſche Critic.

Alle vernuͤnftige Geſezerklaͤrung muß nun alſo
von grammatiſcher Entwickelung des Wort-
verſtandes
ihren Anfang nehmen. Denn Worte
find Zeichen der Gedanken, und das Mittel, den Wil-
len des Geſetzes zu erkennen 91). Den Sinn der
Worte aber beſtimmt der Sprachgebrauch, welcher,
wie der Werth der Muͤnzen, bald ein allgemeiner,
bald ein beſonderer ſeyn kann. Da jedoch Abwei-
chung vom allgemeinen Sprachgebrauch im Zweifel nicht
vermuthet wird, ſo bildet ſich nun hieraus die erſte Re-
gel der grammatiſchen Geſezauslegung: Worte eines
Geſetzes muͤſſen ſo lang in dem Sinn genom-
men werden, den ſie, nach dem gewoͤhnlichen
Redegebrauch der Nation, fuͤr welche das
Geſez beſtimmt war, haben, bis andere zu-
ſammentreffende beſondere Umſtaͤnde einen
andern nothwendig machen
. Iſt aber lezterer
Fall vorhanden, ſo muß alsdann der beſon-

dere
91) Man vergleiche hierbey, was Celſus ſagt in L. 7. §. 2.
D. de ſupell. legat
.
wo beſonders der ſehr richtige Gedan-
ke vorkommt: etſi prior atque potentior eſt, quam vox,
mens dicentis, tamen nemo ſine voce dixiſſe, exiſtimatar
.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0243" n="223"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">de Iu&#x017F;titia et Iure.</hi></fw><lb/>
den Zeiten Carls <hi rendition="#aq">V</hi>. &#x017F;ehr vera&#x0364;nderte Zu&#x017F;tand der teut-<lb/>
&#x017F;chen Staaten viele Verordnungen der P. Gerichtsord-<lb/>
nung heutiges Tages ganz unanwendbar. Allein deswe-<lb/>
gen glaube ich doch nicht, daß die &#x017F;ogenante <hi rendition="#g">politi-<lb/>
&#x017F;che Ge&#x017F;ezauslegung</hi> eine be&#x017F;ondere Gattung der<lb/>
Ge&#x017F;ezerkla&#x0364;rung ausmache, &#x017F;ondern ich rechne &#x017F;ie mit zur<lb/>
philo&#x017F;ophi&#x017F;chen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 35.<lb/>
Grund&#x017F;a&#x0364;tze der <hi rendition="#g">grammati&#x017F;chen</hi> Ge&#x017F;ezerkla&#x0364;rung. Juri&#x017F;ti-<lb/>
&#x017F;che <hi rendition="#g">Critic</hi>.</head><lb/>
            <p>Alle vernu&#x0364;nftige Ge&#x017F;ezerkla&#x0364;rung muß nun al&#x017F;o<lb/>
von <hi rendition="#g">grammati&#x017F;cher Entwickelung des Wort-<lb/>
ver&#x017F;tandes</hi> ihren Anfang nehmen. Denn Worte<lb/>
find Zeichen der Gedanken, und das Mittel, den Wil-<lb/>
len des Ge&#x017F;etzes zu erkennen <note place="foot" n="91)">Man vergleiche hierbey, was Cel&#x017F;us &#x017F;agt in <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">L. 7. §. 2.<lb/>
D. de &#x017F;upell. legat</hi>.</hi> wo be&#x017F;onders der &#x017F;ehr richtige Gedan-<lb/>
ke vorkommt: <hi rendition="#i"><hi rendition="#aq">et&#x017F;i prior atque potentior e&#x017F;t, quam <hi rendition="#g">vox</hi>,<lb/>
mens dicentis, tamen nemo &#x017F;ine voce dixi&#x017F;&#x017F;e, exi&#x017F;timatar</hi>.</hi></note>. Den Sinn der<lb/>
Worte aber be&#x017F;timmt der <hi rendition="#g">Sprachgebrauch</hi>, welcher,<lb/>
wie der Werth der Mu&#x0364;nzen, bald ein <hi rendition="#g">allgemeiner</hi>,<lb/>
bald ein <hi rendition="#g">be&#x017F;onderer</hi> &#x017F;eyn kann. Da jedoch Abwei-<lb/>
chung vom allgemeinen Sprachgebrauch im Zweifel nicht<lb/>
vermuthet wird, &#x017F;o bildet &#x017F;ich nun hieraus die er&#x017F;te Re-<lb/>
gel der grammati&#x017F;chen Ge&#x017F;ezauslegung: <hi rendition="#g">Worte eines<lb/>
Ge&#x017F;etzes mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;o lang in dem Sinn genom-<lb/>
men werden, den &#x017F;ie, nach dem gewo&#x0364;hnlichen<lb/>
Redegebrauch der Nation, fu&#x0364;r welche das<lb/>
Ge&#x017F;ez be&#x017F;timmt war, haben, bis andere zu-<lb/>
&#x017F;ammentreffende be&#x017F;ondere Um&#x017F;ta&#x0364;nde einen<lb/>
andern nothwendig machen</hi>. I&#x017F;t aber lezterer<lb/><hi rendition="#g">Fall vorhanden, &#x017F;o muß alsdann der be&#x017F;on-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#g">dere</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0243] de Iuſtitia et Iure. den Zeiten Carls V. ſehr veraͤnderte Zuſtand der teut- ſchen Staaten viele Verordnungen der P. Gerichtsord- nung heutiges Tages ganz unanwendbar. Allein deswe- gen glaube ich doch nicht, daß die ſogenante politi- ſche Geſezauslegung eine beſondere Gattung der Geſezerklaͤrung ausmache, ſondern ich rechne ſie mit zur philoſophiſchen. §. 35. Grundſaͤtze der grammatiſchen Geſezerklaͤrung. Juriſti- ſche Critic. Alle vernuͤnftige Geſezerklaͤrung muß nun alſo von grammatiſcher Entwickelung des Wort- verſtandes ihren Anfang nehmen. Denn Worte find Zeichen der Gedanken, und das Mittel, den Wil- len des Geſetzes zu erkennen 91). Den Sinn der Worte aber beſtimmt der Sprachgebrauch, welcher, wie der Werth der Muͤnzen, bald ein allgemeiner, bald ein beſonderer ſeyn kann. Da jedoch Abwei- chung vom allgemeinen Sprachgebrauch im Zweifel nicht vermuthet wird, ſo bildet ſich nun hieraus die erſte Re- gel der grammatiſchen Geſezauslegung: Worte eines Geſetzes muͤſſen ſo lang in dem Sinn genom- men werden, den ſie, nach dem gewoͤhnlichen Redegebrauch der Nation, fuͤr welche das Geſez beſtimmt war, haben, bis andere zu- ſammentreffende beſondere Umſtaͤnde einen andern nothwendig machen. Iſt aber lezterer Fall vorhanden, ſo muß alsdann der beſon- dere 91) Man vergleiche hierbey, was Celſus ſagt in L. 7. §. 2. D. de ſupell. legat. wo beſonders der ſehr richtige Gedan- ke vorkommt: etſi prior atque potentior eſt, quam vox, mens dicentis, tamen nemo ſine voce dixiſſe, exiſtimatar.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/243
Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/243>, abgerufen am 30.12.2024.