Gleim, Johann Wilhelm Ludwig: Versuch in Scherzhaften Liedern. Bd. 2. Berlin, 1745.Die Reue. Doris, sieh, die falben Blätter, Sieh, hier werden sie zu Leichen! Wilst du nicht den Herbst verachten? Sieh, er raubt uns Laub und Schatten Und die Sänger, auf den Zweigen, Jagt er aus den grünen Zellen In die Ritzen hohler Klippen! Werden sie nun noch wol singen? Doris, nein, sie werden schweigen, Und sie haben schon geschwiegen, Als du gestern früh, im Garten, Mich mit tausend Küssen labtest. O wir werden ihre Lieder Küssend wünschen und nicht hören. O wie lange wird es währen, Daß sie froh zu deinen Küssen Ihre Lieder wieder singen? Engel, ietzt empfinde Reue; Denn, am zwanzigsten des Maien, Als dich Nachtigallen lokkten, Woltest du nicht immer küssen! Wenn sie künftig wieder lokken, Wilst du dann nicht immer küssen? Die Reue. Doris, ſieh, die falben Blätter, Sieh, hier werden ſie zu Leichen! Wilſt du nicht den Herbſt verachten? Sieh, er raubt uns Laub und Schatten Und die Sänger, auf den Zweigen, Jagt er aus den grünen Zellen In die Ritzen hohler Klippen! Werden ſie nun noch wol ſingen? Doris, nein, ſie werden ſchweigen, Und ſie haben ſchon geſchwiegen, Als du geſtern früh, im Garten, Mich mit tauſend Küſſen labteſt. O wir werden ihre Lieder Küſſend wünſchen und nicht hören. O wie lange wird es währen, Daß ſie froh zu deinen Küſſen Ihre Lieder wieder ſingen? Engel, ietzt empfinde Reue; Denn, am zwanzigſten des Maien, Als dich Nachtigallen lokkten, Wolteſt du nicht immer küſſen! Wenn ſie künftig wieder lokken, Wilſt du dann nicht immer küſſen? <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0064" n="38"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#b">Die Reue.</hi> </head><lb/> <lg type="poem"> <l><hi rendition="#in">D</hi>oris, ſieh, die falben Blätter,</l><lb/> <l>Sieh, hier werden ſie zu Leichen!</l><lb/> <l>Wilſt du nicht den Herbſt verachten?</l><lb/> <l>Sieh, er raubt uns Laub und Schatten</l><lb/> <l>Und die Sänger, auf den Zweigen,</l><lb/> <l>Jagt er aus den grünen Zellen</l><lb/> <l>In die Ritzen hohler Klippen!</l><lb/> <l>Werden ſie nun noch wol ſingen?</l><lb/> <l>Doris, nein, ſie werden ſchweigen,</l><lb/> <l>Und ſie haben ſchon geſchwiegen,</l><lb/> <l>Als du geſtern früh, im Garten,</l><lb/> <l>Mich mit tauſend Küſſen labteſt.</l><lb/> <l>O wir werden ihre Lieder</l><lb/> <l>Küſſend wünſchen und nicht hören.</l><lb/> <l>O wie lange wird es währen,</l><lb/> <l>Daß ſie froh zu deinen Küſſen</l><lb/> <l>Ihre Lieder wieder ſingen?</l><lb/> <l>Engel, ietzt empfinde Reue;</l><lb/> <l>Denn, am zwanzigſten des Maien,</l><lb/> <l>Als dich Nachtigallen lokkten,</l><lb/> <l>Wolteſt du nicht immer küſſen!</l><lb/> <l>Wenn ſie künftig wieder lokken,</l><lb/> <l>Wilſt du dann nicht immer küſſen?</l> </lg> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </body> </text> </TEI> [38/0064]
Die Reue.
Doris, ſieh, die falben Blätter,
Sieh, hier werden ſie zu Leichen!
Wilſt du nicht den Herbſt verachten?
Sieh, er raubt uns Laub und Schatten
Und die Sänger, auf den Zweigen,
Jagt er aus den grünen Zellen
In die Ritzen hohler Klippen!
Werden ſie nun noch wol ſingen?
Doris, nein, ſie werden ſchweigen,
Und ſie haben ſchon geſchwiegen,
Als du geſtern früh, im Garten,
Mich mit tauſend Küſſen labteſt.
O wir werden ihre Lieder
Küſſend wünſchen und nicht hören.
O wie lange wird es währen,
Daß ſie froh zu deinen Küſſen
Ihre Lieder wieder ſingen?
Engel, ietzt empfinde Reue;
Denn, am zwanzigſten des Maien,
Als dich Nachtigallen lokkten,
Wolteſt du nicht immer küſſen!
Wenn ſie künftig wieder lokken,
Wilſt du dann nicht immer küſſen?
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