Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

schehen ist, was deutlich in die Sinne fällt, und eine
recht erfinderische Geschäftigkeit des Arztes verrätht.

Sind nun aber alle diese herrlichen Dinge
fruchtlos geblieben; geht von Tage zu Tage alles schlim-
mer, und der Kranke liegt endlich da, kalt, steif, Puls-
und Athemlos -- kurz, mit allen Erscheinungen eines
Sterbenden: -- Wer sollte dann nicht alle Hoffnung
verlieren? Manche alten Aerzte, die schon so oft auf
gewisse Umstände den Tod erfolgen sahen, und die Fäl-
le, wo sie getäuscht worden sind, höchstens einem Un-
gefähr zuschrieben, dünken sich eine unfehlbare Fertig-
keit in Beurtheilung des zu erwartenden Ausganges
zu besitzen, und sind auf eine oft unverantwortliche
Weise, von Selbstgenügsamkeit und grauem Stolze
durchdrungen, grausam und leichtfertig genug, dem
Kranken und seinen Freunden schlechterdings den letzten
Trost aller Leiden, die Hoffnung, zu benehmen. Die-
se Klasse von Aerzten werden eben dadurch verwegen
und unempfindlich, wodurch der Menschenfreund und
der Beobachter in eben dem Maaße theilnehmender
und klüger wird, als sich seine Jahre und seine Er-
fahrungen vervielfältigt haben. Keiner kennt voll-
kommen die Grenzen der Natur und der Kunst; folg-
lich ist keiner berechtigt, dem Leben oder dem To-
de ein Ziel vorzuschreiben.

§. 121.

Wenn nicht Zerreißung innerer Gefäße, Zer-
stöhrung der Eingeweide, hartnäckige unüberwindliche
Verhärtungen, heftiger Druck, oder sonst augen-

schein-

ſchehen iſt, was deutlich in die Sinne faͤllt, und eine
recht erfinderiſche Geſchaͤftigkeit des Arztes verraͤtht.

Sind nun aber alle dieſe herrlichen Dinge
fruchtlos geblieben; geht von Tage zu Tage alles ſchlim-
mer, und der Kranke liegt endlich da, kalt, ſteif, Puls-
und Athemlos — kurz, mit allen Erſcheinungen eines
Sterbenden: — Wer ſollte dann nicht alle Hoffnung
verlieren? Manche alten Aerzte, die ſchon ſo oft auf
gewiſſe Umſtaͤnde den Tod erfolgen ſahen, und die Faͤl-
le, wo ſie getaͤuſcht worden ſind, hoͤchſtens einem Un-
gefaͤhr zuſchrieben, duͤnken ſich eine unfehlbare Fertig-
keit in Beurtheilung des zu erwartenden Ausganges
zu beſitzen, und ſind auf eine oft unverantwortliche
Weiſe, von Selbſtgenuͤgſamkeit und grauem Stolze
durchdrungen, grauſam und leichtfertig genug, dem
Kranken und ſeinen Freunden ſchlechterdings den letzten
Troſt aller Leiden, die Hoffnung, zu benehmen. Die-
ſe Klaſſe von Aerzten werden eben dadurch verwegen
und unempfindlich, wodurch der Menſchenfreund und
der Beobachter in eben dem Maaße theilnehmender
und kluͤger wird, als ſich ſeine Jahre und ſeine Er-
fahrungen vervielfaͤltigt haben. Keiner kennt voll-
kommen die Grenzen der Natur und der Kunſt; folg-
lich iſt keiner berechtigt, dem Leben oder dem To-
de ein Ziel vorzuſchreiben.

§. 121.

Wenn nicht Zerreißung innerer Gefaͤße, Zer-
ſtoͤhrung der Eingeweide, hartnaͤckige unuͤberwindliche
Verhaͤrtungen, heftiger Druck, oder ſonſt augen-

ſchein-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0721" n="702"/>
&#x017F;chehen i&#x017F;t, was deutlich in die Sinne fa&#x0364;llt, und eine<lb/>
recht erfinderi&#x017F;che Ge&#x017F;cha&#x0364;ftigkeit des Arztes verra&#x0364;tht.</p><lb/>
            <p>Sind nun aber alle die&#x017F;e herrlichen Dinge<lb/>
fruchtlos geblieben; geht von Tage zu Tage alles &#x017F;chlim-<lb/>
mer, und der Kranke liegt endlich da, kalt, &#x017F;teif, Puls-<lb/>
und Athemlos &#x2014; kurz, mit allen Er&#x017F;cheinungen eines<lb/>
Sterbenden: &#x2014; Wer &#x017F;ollte dann nicht alle Hoffnung<lb/>
verlieren? Manche alten Aerzte, die &#x017F;chon &#x017F;o oft auf<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Um&#x017F;ta&#x0364;nde den Tod erfolgen &#x017F;ahen, und die Fa&#x0364;l-<lb/>
le, wo &#x017F;ie geta&#x0364;u&#x017F;cht worden &#x017F;ind, ho&#x0364;ch&#x017F;tens einem Un-<lb/>
gefa&#x0364;hr zu&#x017F;chrieben, du&#x0364;nken &#x017F;ich eine unfehlbare Fertig-<lb/>
keit in Beurtheilung des zu erwartenden Ausganges<lb/>
zu be&#x017F;itzen, und &#x017F;ind auf eine oft unverantwortliche<lb/>
Wei&#x017F;e, von Selb&#x017F;tgenu&#x0364;g&#x017F;amkeit und grauem Stolze<lb/>
durchdrungen, grau&#x017F;am und leichtfertig genug, dem<lb/>
Kranken und &#x017F;einen Freunden &#x017F;chlechterdings den letzten<lb/>
Tro&#x017F;t aller Leiden, die Hoffnung, zu benehmen. Die-<lb/>
&#x017F;e Kla&#x017F;&#x017F;e von Aerzten werden eben dadurch verwegen<lb/>
und unempfindlich, wodurch der Men&#x017F;chenfreund und<lb/>
der Beobachter in eben dem Maaße theilnehmender<lb/>
und klu&#x0364;ger wird, als &#x017F;ich &#x017F;eine Jahre und &#x017F;eine Er-<lb/>
fahrungen vervielfa&#x0364;ltigt haben. Keiner kennt voll-<lb/>
kommen die Grenzen der Natur und der Kun&#x017F;t; folg-<lb/>
lich i&#x017F;t keiner berechtigt, dem Leben oder dem To-<lb/>
de ein Ziel vorzu&#x017F;chreiben.</p><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 121.</head><lb/>
              <p>Wenn nicht Zerreißung innerer Gefa&#x0364;ße, Zer-<lb/>
&#x017F;to&#x0364;hrung der Eingeweide, hartna&#x0364;ckige unu&#x0364;berwindliche<lb/>
Verha&#x0364;rtungen, heftiger Druck, oder &#x017F;on&#x017F;t augen-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chein-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[702/0721] ſchehen iſt, was deutlich in die Sinne faͤllt, und eine recht erfinderiſche Geſchaͤftigkeit des Arztes verraͤtht. Sind nun aber alle dieſe herrlichen Dinge fruchtlos geblieben; geht von Tage zu Tage alles ſchlim- mer, und der Kranke liegt endlich da, kalt, ſteif, Puls- und Athemlos — kurz, mit allen Erſcheinungen eines Sterbenden: — Wer ſollte dann nicht alle Hoffnung verlieren? Manche alten Aerzte, die ſchon ſo oft auf gewiſſe Umſtaͤnde den Tod erfolgen ſahen, und die Faͤl- le, wo ſie getaͤuſcht worden ſind, hoͤchſtens einem Un- gefaͤhr zuſchrieben, duͤnken ſich eine unfehlbare Fertig- keit in Beurtheilung des zu erwartenden Ausganges zu beſitzen, und ſind auf eine oft unverantwortliche Weiſe, von Selbſtgenuͤgſamkeit und grauem Stolze durchdrungen, grauſam und leichtfertig genug, dem Kranken und ſeinen Freunden ſchlechterdings den letzten Troſt aller Leiden, die Hoffnung, zu benehmen. Die- ſe Klaſſe von Aerzten werden eben dadurch verwegen und unempfindlich, wodurch der Menſchenfreund und der Beobachter in eben dem Maaße theilnehmender und kluͤger wird, als ſich ſeine Jahre und ſeine Er- fahrungen vervielfaͤltigt haben. Keiner kennt voll- kommen die Grenzen der Natur und der Kunſt; folg- lich iſt keiner berechtigt, dem Leben oder dem To- de ein Ziel vorzuſchreiben. §. 121. Wenn nicht Zerreißung innerer Gefaͤße, Zer- ſtoͤhrung der Eingeweide, hartnaͤckige unuͤberwindliche Verhaͤrtungen, heftiger Druck, oder ſonſt augen- ſchein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/721
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 702. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/721>, abgerufen am 30.12.2024.