Wie unterscheiden sich aber der unnütze und der schädliche vom heilsamen? -- Freylich wäre es kein ge- ringer Vortheil, wenn man ein Merkmal festsetzen könnte, woraus sich mit einiger Gewißheit erkennen ließ, wo man den Begierden des Kranken nachgeben, oder sie verwerfen müsse. Allein ich bin's überzeugt, daß wir noch viel weiter davon entfernt sind, als man glaubt. -- Sims will aus Erfahrungen behaup- ten, daß man diesem Verlangen vor der Abnahme der Krankheit niemals wiederstehen dürfe; hingegen seye es bedenklich nach der Nachlassung, und sobald sich eine Veränderung zur Besserung eingestellt habe, besonders, wenn sich der Puls dem natürlichen nä- hert, es seye denn, daß das Verlangen ausserordent- lich heftig sey, und der Kranke bey der verweigerten Erfüllung desselben den Muth zu verlieren scheine. Er versichert, daß fünfzig unter solchen aufkommen für einen, der stirbt. Vogel sucht dieses in seinem Handb. d. prakt. Arz. also zu erklären: "Je mehr sich der Kranke seiner bewußt ist, je mehr Lebhaftigkeit die Empfindungen seines Magens nach gebrochener Krankheit wieder erhalten, und je emsiger die Natur nun sucht, den Verlust der Kräfte, der festen und flüssigen Theile baldigst wieder zu ersetzen; desto leich- ter wird der Patient, bey der grossen Wahl von Speisen und Getränken, auf Dinge, und vielmals auf diejenigen besonders verfallen, die er in gesunden Tagen am liebsten genaß, welche nun aber der Schwach- heit seiner Danungskräfte, der Reitzbarkeit seines
Ma-
§. 114.
Wie unterſcheiden ſich aber der unnuͤtze und der ſchaͤdliche vom heilſamen? — Freylich waͤre es kein ge- ringer Vortheil, wenn man ein Merkmal feſtſetzen koͤnnte, woraus ſich mit einiger Gewißheit erkennen ließ, wo man den Begierden des Kranken nachgeben, oder ſie verwerfen muͤſſe. Allein ich bin’s uͤberzeugt, daß wir noch viel weiter davon entfernt ſind, als man glaubt. — Sims will aus Erfahrungen behaup- ten, daß man dieſem Verlangen vor der Abnahme der Krankheit niemals wiederſtehen duͤrfe; hingegen ſeye es bedenklich nach der Nachlaſſung, und ſobald ſich eine Veraͤnderung zur Beſſerung eingeſtellt habe, beſonders, wenn ſich der Puls dem natuͤrlichen naͤ- hert, es ſeye denn, daß das Verlangen auſſerordent- lich heftig ſey, und der Kranke bey der verweigerten Erfuͤllung deſſelben den Muth zu verlieren ſcheine. Er verſichert, daß fuͤnfzig unter ſolchen aufkommen fuͤr einen, der ſtirbt. Vogel ſucht dieſes in ſeinem Handb. d. prakt. Arz. alſo zu erklaͤren: „Je mehr ſich der Kranke ſeiner bewußt iſt, je mehr Lebhaftigkeit die Empfindungen ſeines Magens nach gebrochener Krankheit wieder erhalten, und je emſiger die Natur nun ſucht, den Verluſt der Kraͤfte, der feſten und fluͤſſigen Theile baldigſt wieder zu erſetzen; deſto leich- ter wird der Patient, bey der groſſen Wahl von Speiſen und Getraͤnken, auf Dinge, und vielmals auf diejenigen beſonders verfallen, die er in geſunden Tagen am liebſten genaß, welche nun aber der Schwach- heit ſeiner Danungskraͤfte, der Reitzbarkeit ſeines
Ma-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0689"n="670"/><divn="4"><head>§. 114.</head><lb/><p>Wie unterſcheiden ſich aber der unnuͤtze und der<lb/>ſchaͤdliche vom heilſamen? — Freylich waͤre es kein ge-<lb/>
ringer Vortheil, wenn man ein Merkmal feſtſetzen<lb/>
koͤnnte, woraus ſich mit einiger Gewißheit erkennen<lb/>
ließ, wo man den Begierden des Kranken nachgeben,<lb/>
oder ſie verwerfen muͤſſe. Allein ich bin’s uͤberzeugt,<lb/>
daß wir noch viel weiter davon entfernt ſind, als<lb/>
man glaubt. —<hirendition="#fr">Sims</hi> will aus Erfahrungen behaup-<lb/>
ten, daß man dieſem Verlangen vor der Abnahme<lb/>
der Krankheit niemals wiederſtehen duͤrfe; hingegen<lb/>ſeye es bedenklich nach der Nachlaſſung, und ſobald<lb/>ſich eine Veraͤnderung zur Beſſerung eingeſtellt habe,<lb/>
beſonders, wenn ſich der Puls dem natuͤrlichen naͤ-<lb/>
hert, es ſeye denn, daß das Verlangen auſſerordent-<lb/>
lich heftig ſey, und der Kranke bey der verweigerten<lb/>
Erfuͤllung deſſelben den Muth zu verlieren ſcheine.<lb/>
Er verſichert, daß fuͤnfzig unter ſolchen aufkommen<lb/>
fuͤr einen, der ſtirbt. <hirendition="#fr">Vogel</hi>ſucht dieſes in ſeinem<lb/>
Handb. d. prakt. Arz. alſo zu erklaͤren: „Je mehr ſich<lb/>
der Kranke ſeiner bewußt iſt, je mehr Lebhaftigkeit<lb/>
die Empfindungen ſeines Magens nach gebrochener<lb/>
Krankheit wieder erhalten, und je emſiger die Natur<lb/>
nun ſucht, den Verluſt der Kraͤfte, der feſten und<lb/>
fluͤſſigen Theile baldigſt wieder zu erſetzen; deſto leich-<lb/>
ter wird der Patient, bey der groſſen Wahl von<lb/>
Speiſen und Getraͤnken, auf Dinge, und vielmals<lb/>
auf diejenigen beſonders verfallen, die er in geſunden<lb/>
Tagen am liebſten genaß, welche nun aber der Schwach-<lb/>
heit ſeiner Danungskraͤfte, der Reitzbarkeit ſeines<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Ma-</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[670/0689]
§. 114.
Wie unterſcheiden ſich aber der unnuͤtze und der
ſchaͤdliche vom heilſamen? — Freylich waͤre es kein ge-
ringer Vortheil, wenn man ein Merkmal feſtſetzen
koͤnnte, woraus ſich mit einiger Gewißheit erkennen
ließ, wo man den Begierden des Kranken nachgeben,
oder ſie verwerfen muͤſſe. Allein ich bin’s uͤberzeugt,
daß wir noch viel weiter davon entfernt ſind, als
man glaubt. — Sims will aus Erfahrungen behaup-
ten, daß man dieſem Verlangen vor der Abnahme
der Krankheit niemals wiederſtehen duͤrfe; hingegen
ſeye es bedenklich nach der Nachlaſſung, und ſobald
ſich eine Veraͤnderung zur Beſſerung eingeſtellt habe,
beſonders, wenn ſich der Puls dem natuͤrlichen naͤ-
hert, es ſeye denn, daß das Verlangen auſſerordent-
lich heftig ſey, und der Kranke bey der verweigerten
Erfuͤllung deſſelben den Muth zu verlieren ſcheine.
Er verſichert, daß fuͤnfzig unter ſolchen aufkommen
fuͤr einen, der ſtirbt. Vogel ſucht dieſes in ſeinem
Handb. d. prakt. Arz. alſo zu erklaͤren: „Je mehr ſich
der Kranke ſeiner bewußt iſt, je mehr Lebhaftigkeit
die Empfindungen ſeines Magens nach gebrochener
Krankheit wieder erhalten, und je emſiger die Natur
nun ſucht, den Verluſt der Kraͤfte, der feſten und
fluͤſſigen Theile baldigſt wieder zu erſetzen; deſto leich-
ter wird der Patient, bey der groſſen Wahl von
Speiſen und Getraͤnken, auf Dinge, und vielmals
auf diejenigen beſonders verfallen, die er in geſunden
Tagen am liebſten genaß, welche nun aber der Schwach-
heit ſeiner Danungskraͤfte, der Reitzbarkeit ſeines
Ma-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 670. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/689>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.