Der Körperwelt hingegen hatte man lange alle Bewegung und Thätigkeit abgesprochen; man übersah die Erscheinungen, welche die Erden, die Gewächse, die unvernünftigen Thiere und die Welten mit dem Menschen gemein haben; riß ihn daher vom Naturall ab; und da man ihn nimmer in der Verbindung mit der übrigen Schöpfung untersuchte: so ist es kein Wunder, daß man als die Grundursache aller Er- scheinungen eine Sache angab, welche ihn so sehr über die Körper- und Thierwelt erhob. Dieses war die menschliche Seele. Man schrieb ihr die Klugheit und Willkühr einer Baumeisterin zu, und beehrte sie mit dem Namen einer Erhalterin und Vermittlerin ihrer körperlichen Hülle.
§. 6. Darstellung der Stahlischen Hypothese.
Kaum berührte der Same des Mannes den Keim des künftigen Menschen; so ordnete die Seele die La- ge der Theile und ihre Mischung: sie sah die Geburt und alle dabey obwaltenden Umstände vor; daher senk- te sie gegen das Ende der Schwangerschaft den Kopf auf den Eingang des Beckens; brachte in gemeinschaft- licher Wirkung mit der Seele der Mutter das nun reife Kind zur Welt; erweiterte ihm die Brusthöhle; fieng das Geschäft des Athmens an, und wieß den Säften einen andern Lauf an, weil die Gemeinschaft mit der Mutter nun aufgehoben ist; jezt hieß sie es, sich nach der Milch in den Brüsten sehnen; dieser prägte sie die Kraft ein, den zähen Stoff, den sie bisher
von
Der Koͤrperwelt hingegen hatte man lange alle Bewegung und Thaͤtigkeit abgeſprochen; man uͤberſah die Erſcheinungen, welche die Erden, die Gewaͤchſe, die unvernuͤnftigen Thiere und die Welten mit dem Menſchen gemein haben; riß ihn daher vom Naturall ab; und da man ihn nimmer in der Verbindung mit der uͤbrigen Schoͤpfung unterſuchte: ſo iſt es kein Wunder, daß man als die Grundurſache aller Er- ſcheinungen eine Sache angab, welche ihn ſo ſehr uͤber die Koͤrper- und Thierwelt erhob. Dieſes war die menſchliche Seele. Man ſchrieb ihr die Klugheit und Willkuͤhr einer Baumeiſterin zu, und beehrte ſie mit dem Namen einer Erhalterin und Vermittlerin ihrer koͤrperlichen Huͤlle.
§. 6. Darſtellung der Stahliſchen Hypotheſe.
Kaum beruͤhrte der Same des Mannes den Keim des kuͤnftigen Menſchen; ſo ordnete die Seele die La- ge der Theile und ihre Miſchung: ſie ſah die Geburt und alle dabey obwaltenden Umſtaͤnde vor; daher ſenk- te ſie gegen das Ende der Schwangerſchaft den Kopf auf den Eingang des Beckens; brachte in gemeinſchaft- licher Wirkung mit der Seele der Mutter das nun reife Kind zur Welt; erweiterte ihm die Bruſthoͤhle; fieng das Geſchaͤft des Athmens an, und wieß den Saͤften einen andern Lauf an, weil die Gemeinſchaft mit der Mutter nun aufgehoben iſt; jezt hieß ſie es, ſich nach der Milch in den Bruͤſten ſehnen; dieſer praͤgte ſie die Kraft ein, den zaͤhen Stoff, den ſie bisher
von
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0025"n="6"/><p>Der Koͤrperwelt hingegen hatte man lange alle<lb/>
Bewegung und Thaͤtigkeit abgeſprochen; man uͤberſah<lb/>
die Erſcheinungen, welche die Erden, die Gewaͤchſe,<lb/>
die unvernuͤnftigen Thiere und die Welten mit dem<lb/>
Menſchen gemein haben; riß ihn daher vom Naturall<lb/>
ab; und da man ihn nimmer in der Verbindung mit<lb/>
der uͤbrigen Schoͤpfung unterſuchte: ſo iſt es kein<lb/>
Wunder, daß man als die Grundurſache aller Er-<lb/>ſcheinungen eine Sache angab, welche ihn ſo ſehr uͤber<lb/>
die Koͤrper- und Thierwelt erhob. Dieſes war die<lb/>
menſchliche Seele. Man ſchrieb ihr die Klugheit und<lb/>
Willkuͤhr einer Baumeiſterin zu, und beehrte ſie mit<lb/>
dem Namen einer Erhalterin und Vermittlerin ihrer<lb/>
koͤrperlichen Huͤlle.</p></div><lb/><divn="3"><head>§. 6.<lb/><hirendition="#b">Darſtellung der Stahliſchen Hypotheſe.</hi></head><lb/><p>Kaum beruͤhrte der Same des Mannes den Keim<lb/>
des kuͤnftigen Menſchen; ſo ordnete die Seele die La-<lb/>
ge der Theile und ihre Miſchung: ſie ſah die Geburt<lb/>
und alle dabey obwaltenden Umſtaͤnde vor; daher ſenk-<lb/>
te ſie gegen das Ende der Schwangerſchaft den Kopf<lb/>
auf den Eingang des Beckens; brachte in gemeinſchaft-<lb/>
licher Wirkung mit der Seele der Mutter das nun<lb/>
reife Kind zur Welt; erweiterte ihm die Bruſthoͤhle;<lb/>
fieng das Geſchaͤft des Athmens an, und wieß den<lb/>
Saͤften einen andern Lauf an, weil die Gemeinſchaft<lb/>
mit der Mutter nun aufgehoben iſt; jezt hieß ſie es,<lb/>ſich nach der Milch in den Bruͤſten ſehnen; dieſer praͤgte<lb/>ſie die Kraft ein, den zaͤhen Stoff, den ſie bisher<lb/><fwplace="bottom"type="catch">von</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[6/0025]
Der Koͤrperwelt hingegen hatte man lange alle
Bewegung und Thaͤtigkeit abgeſprochen; man uͤberſah
die Erſcheinungen, welche die Erden, die Gewaͤchſe,
die unvernuͤnftigen Thiere und die Welten mit dem
Menſchen gemein haben; riß ihn daher vom Naturall
ab; und da man ihn nimmer in der Verbindung mit
der uͤbrigen Schoͤpfung unterſuchte: ſo iſt es kein
Wunder, daß man als die Grundurſache aller Er-
ſcheinungen eine Sache angab, welche ihn ſo ſehr uͤber
die Koͤrper- und Thierwelt erhob. Dieſes war die
menſchliche Seele. Man ſchrieb ihr die Klugheit und
Willkuͤhr einer Baumeiſterin zu, und beehrte ſie mit
dem Namen einer Erhalterin und Vermittlerin ihrer
koͤrperlichen Huͤlle.
§. 6.
Darſtellung der Stahliſchen Hypotheſe.
Kaum beruͤhrte der Same des Mannes den Keim
des kuͤnftigen Menſchen; ſo ordnete die Seele die La-
ge der Theile und ihre Miſchung: ſie ſah die Geburt
und alle dabey obwaltenden Umſtaͤnde vor; daher ſenk-
te ſie gegen das Ende der Schwangerſchaft den Kopf
auf den Eingang des Beckens; brachte in gemeinſchaft-
licher Wirkung mit der Seele der Mutter das nun
reife Kind zur Welt; erweiterte ihm die Bruſthoͤhle;
fieng das Geſchaͤft des Athmens an, und wieß den
Saͤften einen andern Lauf an, weil die Gemeinſchaft
mit der Mutter nun aufgehoben iſt; jezt hieß ſie es,
ſich nach der Milch in den Bruͤſten ſehnen; dieſer praͤgte
ſie die Kraft ein, den zaͤhen Stoff, den ſie bisher
von
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/25>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.