Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Körperwelt hingegen hatte man lange alle
Bewegung und Thätigkeit abgesprochen; man übersah
die Erscheinungen, welche die Erden, die Gewächse,
die unvernünftigen Thiere und die Welten mit dem
Menschen gemein haben; riß ihn daher vom Naturall
ab; und da man ihn nimmer in der Verbindung mit
der übrigen Schöpfung untersuchte: so ist es kein
Wunder, daß man als die Grundursache aller Er-
scheinungen eine Sache angab, welche ihn so sehr über
die Körper- und Thierwelt erhob. Dieses war die
menschliche Seele. Man schrieb ihr die Klugheit und
Willkühr einer Baumeisterin zu, und beehrte sie mit
dem Namen einer Erhalterin und Vermittlerin ihrer
körperlichen Hülle.

§. 6.
Darstellung der Stahlischen Hypothese.

Kaum berührte der Same des Mannes den Keim
des künftigen Menschen; so ordnete die Seele die La-
ge der Theile und ihre Mischung: sie sah die Geburt
und alle dabey obwaltenden Umstände vor; daher senk-
te sie gegen das Ende der Schwangerschaft den Kopf
auf den Eingang des Beckens; brachte in gemeinschaft-
licher Wirkung mit der Seele der Mutter das nun
reife Kind zur Welt; erweiterte ihm die Brusthöhle;
fieng das Geschäft des Athmens an, und wieß den
Säften einen andern Lauf an, weil die Gemeinschaft
mit der Mutter nun aufgehoben ist; jezt hieß sie es,
sich nach der Milch in den Brüsten sehnen; dieser prägte
sie die Kraft ein, den zähen Stoff, den sie bisher

von

Der Koͤrperwelt hingegen hatte man lange alle
Bewegung und Thaͤtigkeit abgeſprochen; man uͤberſah
die Erſcheinungen, welche die Erden, die Gewaͤchſe,
die unvernuͤnftigen Thiere und die Welten mit dem
Menſchen gemein haben; riß ihn daher vom Naturall
ab; und da man ihn nimmer in der Verbindung mit
der uͤbrigen Schoͤpfung unterſuchte: ſo iſt es kein
Wunder, daß man als die Grundurſache aller Er-
ſcheinungen eine Sache angab, welche ihn ſo ſehr uͤber
die Koͤrper- und Thierwelt erhob. Dieſes war die
menſchliche Seele. Man ſchrieb ihr die Klugheit und
Willkuͤhr einer Baumeiſterin zu, und beehrte ſie mit
dem Namen einer Erhalterin und Vermittlerin ihrer
koͤrperlichen Huͤlle.

§. 6.
Darſtellung der Stahliſchen Hypotheſe.

Kaum beruͤhrte der Same des Mannes den Keim
des kuͤnftigen Menſchen; ſo ordnete die Seele die La-
ge der Theile und ihre Miſchung: ſie ſah die Geburt
und alle dabey obwaltenden Umſtaͤnde vor; daher ſenk-
te ſie gegen das Ende der Schwangerſchaft den Kopf
auf den Eingang des Beckens; brachte in gemeinſchaft-
licher Wirkung mit der Seele der Mutter das nun
reife Kind zur Welt; erweiterte ihm die Bruſthoͤhle;
fieng das Geſchaͤft des Athmens an, und wieß den
Saͤften einen andern Lauf an, weil die Gemeinſchaft
mit der Mutter nun aufgehoben iſt; jezt hieß ſie es,
ſich nach der Milch in den Bruͤſten ſehnen; dieſer praͤgte
ſie die Kraft ein, den zaͤhen Stoff, den ſie bisher

von
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0025" n="6"/>
            <p>Der Ko&#x0364;rperwelt hingegen hatte man lange alle<lb/>
Bewegung und Tha&#x0364;tigkeit abge&#x017F;prochen; man u&#x0364;ber&#x017F;ah<lb/>
die Er&#x017F;cheinungen, welche die Erden, die Gewa&#x0364;ch&#x017F;e,<lb/>
die unvernu&#x0364;nftigen Thiere und die Welten mit dem<lb/>
Men&#x017F;chen gemein haben; riß ihn daher vom Naturall<lb/>
ab; und da man ihn nimmer in der Verbindung mit<lb/>
der u&#x0364;brigen Scho&#x0364;pfung unter&#x017F;uchte: &#x017F;o i&#x017F;t es kein<lb/>
Wunder, daß man als die Grundur&#x017F;ache aller Er-<lb/>
&#x017F;cheinungen eine Sache angab, welche ihn &#x017F;o &#x017F;ehr u&#x0364;ber<lb/>
die Ko&#x0364;rper- und Thierwelt erhob. Die&#x017F;es war die<lb/>
men&#x017F;chliche Seele. Man &#x017F;chrieb ihr die Klugheit und<lb/>
Willku&#x0364;hr einer Baumei&#x017F;terin zu, und beehrte &#x017F;ie mit<lb/>
dem Namen einer Erhalterin und Vermittlerin ihrer<lb/>
ko&#x0364;rperlichen Hu&#x0364;lle.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 6.<lb/><hi rendition="#b">Dar&#x017F;tellung der Stahli&#x017F;chen Hypothe&#x017F;e.</hi></head><lb/>
            <p>Kaum beru&#x0364;hrte der Same des Mannes den Keim<lb/>
des ku&#x0364;nftigen Men&#x017F;chen; &#x017F;o ordnete die Seele die La-<lb/>
ge der Theile und ihre Mi&#x017F;chung: &#x017F;ie &#x017F;ah die Geburt<lb/>
und alle dabey obwaltenden Um&#x017F;ta&#x0364;nde vor; daher &#x017F;enk-<lb/>
te &#x017F;ie gegen das Ende der Schwanger&#x017F;chaft den Kopf<lb/>
auf den Eingang des Beckens; brachte in gemein&#x017F;chaft-<lb/>
licher Wirkung mit der Seele der Mutter das nun<lb/>
reife Kind zur Welt; erweiterte ihm die Bru&#x017F;tho&#x0364;hle;<lb/>
fieng das Ge&#x017F;cha&#x0364;ft des Athmens an, und wieß den<lb/>
Sa&#x0364;ften einen andern Lauf an, weil die Gemein&#x017F;chaft<lb/>
mit der Mutter nun aufgehoben i&#x017F;t; jezt hieß &#x017F;ie es,<lb/>
&#x017F;ich nach der Milch in den Bru&#x0364;&#x017F;ten &#x017F;ehnen; die&#x017F;er pra&#x0364;gte<lb/>
&#x017F;ie die Kraft ein, den za&#x0364;hen Stoff, den &#x017F;ie bisher<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">von</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[6/0025] Der Koͤrperwelt hingegen hatte man lange alle Bewegung und Thaͤtigkeit abgeſprochen; man uͤberſah die Erſcheinungen, welche die Erden, die Gewaͤchſe, die unvernuͤnftigen Thiere und die Welten mit dem Menſchen gemein haben; riß ihn daher vom Naturall ab; und da man ihn nimmer in der Verbindung mit der uͤbrigen Schoͤpfung unterſuchte: ſo iſt es kein Wunder, daß man als die Grundurſache aller Er- ſcheinungen eine Sache angab, welche ihn ſo ſehr uͤber die Koͤrper- und Thierwelt erhob. Dieſes war die menſchliche Seele. Man ſchrieb ihr die Klugheit und Willkuͤhr einer Baumeiſterin zu, und beehrte ſie mit dem Namen einer Erhalterin und Vermittlerin ihrer koͤrperlichen Huͤlle. §. 6. Darſtellung der Stahliſchen Hypotheſe. Kaum beruͤhrte der Same des Mannes den Keim des kuͤnftigen Menſchen; ſo ordnete die Seele die La- ge der Theile und ihre Miſchung: ſie ſah die Geburt und alle dabey obwaltenden Umſtaͤnde vor; daher ſenk- te ſie gegen das Ende der Schwangerſchaft den Kopf auf den Eingang des Beckens; brachte in gemeinſchaft- licher Wirkung mit der Seele der Mutter das nun reife Kind zur Welt; erweiterte ihm die Bruſthoͤhle; fieng das Geſchaͤft des Athmens an, und wieß den Saͤften einen andern Lauf an, weil die Gemeinſchaft mit der Mutter nun aufgehoben iſt; jezt hieß ſie es, ſich nach der Milch in den Bruͤſten ſehnen; dieſer praͤgte ſie die Kraft ein, den zaͤhen Stoff, den ſie bisher von

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der erste Band von Franz Joseph Galls "Philosophi… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/25
Zitationshilfe: Gall, Franz Joseph: Philosophisch-medizinische Untersuchungen über Natur und Kunst im kranken und gesunden Zustand des Menschen. Wien, 1791, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gall_untersuchungen_1791/25>, abgerufen am 03.12.2024.