Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.kaum möglich, von ihnen immer zu constatiren, wer sie zuerst ausgesprochen hat, und auch die Gefahr liegt nahe, dass man für eigenes Product hält, was von ändern schon gesagt worden ist. So möge es entschuldigt werden, wenn hier wenig Citate gebracht werden und zwischen Eigenem und Fremdem nicht streng unterschieden wird. Auf Originalität macht das Wenigste von dem Anspruch, was auf den folgenden Seiten dargelegt werden soll. I. Sind alle hysterischen Phänomene ideogen? Wir sprachen in der "Vorläufigen Mittheilung" über den psychischen Mechanismus "hysterischer Phänomene"; nicht "der Hysterie", weil wir für denselben, und für die psychische Theorie der hysterischen Symptome überhaupt, uneingeschränkte Geltung nicht beanspruchen wollten. Wir glauben nicht, dass alle Erscheinungen der Hysterie auf die von uns dargelegte Weise zu Stande kommen, und auch nicht, dass alle ideogen, d. h. durch Vorstellungen bedingt seien. Wir differiren darin von Möbius,1 der 1888 die Definition vorschlug: "Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften Erscheinungen, die durch Vorstellungen verursacht sind." Später wurde dieser Satz dahin erläutert, dass nur ein Theil der krankhaften Phänomene den verursachenden Vorstellungen inhaltlich entspreche, nämlich die durch Fremd- oder Auto-Suggestion erzeugten; z. B. wenn die Vorstellung, den Arm nicht bewegen zu können, eine Lähmung desselben bedinge. Ein anderer Theil der hysterischen Phänomene sei zwar durch Vorstellungen verursacht, entspreche ihnen aber inhaltlich nicht; z. B. wenn in einer unserer Beobachtungen die Lähmung des Armes durch den Anblick von schlangenähnlichen Gegenständen erzeugt wird. Möbius will mit dieser Definition nicht etwa eine Veränderung der Nomenclatur befürworten, so dass fortan nur die durch Vorstellungen bedingten, ideogenen krankhaften Phänomene hysterisch zu nennen wären; sondern er meint, dass alle hysterischen Krankheitserscheinungen ideogen seien. "Weil sehr oft Vorstellungen Ursache der hysterischen Erscheinungen sind, glauben wir, dass sie es immer seien." Er nennt dies einen Analogieschluss; ich möchte es eher eine Generalisation nennen, deren Berechtigung erst untersucht werden muss. Offenbar muss vor jeder Discussion festgestellt werden, was man unter Hysterie versteht. Ich halte Hysterie für ein empirisch gefundenes, der Beobachtung entstammendes Krankheitsbild, gerade so wie die tuberculöse 1 Möbius, Über den Begriff der Hysterie. Wiederabgedruckt in "Neurologische Beiträge", I. Heft, 1894.
kaum möglich, von ihnen immer zu constatiren, wer sie zuerst ausgesprochen hat, und auch die Gefahr liegt nahe, dass man für eigenes Product hält, was von ändern schon gesagt worden ist. So möge es entschuldigt werden, wenn hier wenig Citate gebracht werden und zwischen Eigenem und Fremdem nicht streng unterschieden wird. Auf Originalität macht das Wenigste von dem Anspruch, was auf den folgenden Seiten dargelegt werden soll. I. Sind alle hysterischen Phänomene ideogen? Wir sprachen in der „Vorläufigen Mittheilung“ über den psychischen Mechanismus „hysterischer Phänomene“; nicht „der Hysterie“, weil wir für denselben, und für die psychische Theorie der hysterischen Symptome überhaupt, uneingeschränkte Geltung nicht beanspruchen wollten. Wir glauben nicht, dass alle Erscheinungen der Hysterie auf die von uns dargelegte Weise zu Stande kommen, und auch nicht, dass alle ideogen, d. h. durch Vorstellungen bedingt seien. Wir differiren darin von Möbius,1 der 1888 die Definition vorschlug: „Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften Erscheinungen, die durch Vorstellungen verursacht sind.“ Später wurde dieser Satz dahin erläutert, dass nur ein Theil der krankhaften Phänomene den verursachenden Vorstellungen inhaltlich entspreche, nämlich die durch Fremd- oder Auto-Suggestion erzeugten; z. B. wenn die Vorstellung, den Arm nicht bewegen zu können, eine Lähmung desselben bedinge. Ein anderer Theil der hysterischen Phänomene sei zwar durch Vorstellungen verursacht, entspreche ihnen aber inhaltlich nicht; z. B. wenn in einer unserer Beobachtungen die Lähmung des Armes durch den Anblick von schlangenähnlichen Gegenständen erzeugt wird. Möbius will mit dieser Definition nicht etwa eine Veränderung der Nomenclatur befürworten, so dass fortan nur die durch Vorstellungen bedingten, ideogenen krankhaften Phänomene hysterisch zu nennen wären; sondern er meint, dass alle hysterischen Krankheitserscheinungen ideogen seien. „Weil sehr oft Vorstellungen Ursache der hysterischen Erscheinungen sind, glauben wir, dass sie es immer seien.“ Er nennt dies einen Analogieschluss; ich möchte es eher eine Generalisation nennen, deren Berechtigung erst untersucht werden muss. Offenbar muss vor jeder Discussion festgestellt werden, was man unter Hysterie versteht. Ich halte Hysterie für ein empirisch gefundenes, der Beobachtung entstammendes Krankheitsbild, gerade so wie die tuberculöse 1 Möbius, Über den Begriff der Hysterie. Wiederabgedruckt in „Neurologische Beiträge“, I. Heft, 1894.
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kaum möglich, von ihnen immer zu constatiren, wer sie zuerst ausgesprochen hat, und auch die Gefahr liegt nahe, dass man für eigenes Product hält, was von ändern schon gesagt worden ist. So möge es entschuldigt werden, wenn hier wenig Citate gebracht werden und zwischen Eigenem und Fremdem nicht streng unterschieden wird. Auf Originalität macht das Wenigste von dem Anspruch, was auf den folgenden Seiten dargelegt werden soll.
I. Sind alle hysterischen Phänomene ideogen?
Wir sprachen in der „Vorläufigen Mittheilung“ über den psychischen Mechanismus „hysterischer Phänomene“; nicht „der Hysterie“, weil wir für denselben, und für die psychische Theorie der hysterischen Symptome überhaupt, uneingeschränkte Geltung nicht beanspruchen wollten. Wir glauben nicht, dass alle Erscheinungen der Hysterie auf die von uns dargelegte Weise zu Stande kommen, und auch nicht, dass alle ideogen, d. h. durch Vorstellungen bedingt seien. Wir differiren darin von Möbius, 1 der 1888 die Definition vorschlug: „Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften Erscheinungen, die durch Vorstellungen verursacht sind.“ Später wurde dieser Satz dahin erläutert, dass nur ein Theil der krankhaften Phänomene den verursachenden Vorstellungen inhaltlich entspreche, nämlich die durch Fremd- oder Auto-Suggestion erzeugten; z. B. wenn die Vorstellung, den Arm nicht bewegen zu können, eine Lähmung desselben bedinge. Ein anderer Theil der hysterischen Phänomene sei zwar durch Vorstellungen verursacht, entspreche ihnen aber inhaltlich nicht; z. B. wenn in einer unserer Beobachtungen die Lähmung des Armes durch den Anblick von schlangenähnlichen Gegenständen erzeugt wird.
Möbius will mit dieser Definition nicht etwa eine Veränderung der Nomenclatur befürworten, so dass fortan nur die durch Vorstellungen bedingten, ideogenen krankhaften Phänomene hysterisch zu nennen wären; sondern er meint, dass alle hysterischen Krankheitserscheinungen ideogen seien. „Weil sehr oft Vorstellungen Ursache der hysterischen Erscheinungen sind, glauben wir, dass sie es immer seien.“ Er nennt dies einen Analogieschluss; ich möchte es eher eine Generalisation nennen, deren Berechtigung erst untersucht werden muss.
Offenbar muss vor jeder Discussion festgestellt werden, was man unter Hysterie versteht. Ich halte Hysterie für ein empirisch gefundenes, der Beobachtung entstammendes Krankheitsbild, gerade so wie die tuberculöse
1 Möbius, Über den Begriff der Hysterie. Wiederabgedruckt in „Neurologische Beiträge“, I. Heft, 1894.
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