Frapan, Ilse [i. e. Ilse Akunian]: Flügel auf! Novellen. Berlin, 1895.Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen. Wedel, 26. Oktober 1892. Lieber Axel! Du schreibst mir in einem Ton, als ob ich Deine Achtung völlig verscherzt hätte. Wir verstehen uns mal wieder nicht. Wir fühlen nämlich zu verschieden, und das macht mich noch doppelt traurig, Deine ewige Härte und Ungerechtigkeit! Und Du weißt doch, daß ich ohnehin kein leichtes Leben habe. So mißtrauisch sind sie gegen mich, als wäre ich eine Fremde! Neulich traf ich Mama mit einem Brief in der Hand, den sie aus meiner Kleidertasche gezogen hatte. Es war ein Brief von Agnes, weißt Du, die jetzt in England Erzieherin ist. Sie antwortete mir so auf allerlei Anfragen. Ich war sehr verlegen in Mamas Seele hinein, aber Mama gar nicht. "Da Du nicht geruht hast, mir den Brief Deiner Freundin mitzutheilen, so habe ich ihn selbst gelesen," sagte sie in strafendem Ton. Sie brauchte das Wort "geruht" mit einem ironischen Nachdruck. "Ich muß doch wissen, was für Korrespondenzen Du führst," fügte sie dann hinzu; "Agnes schreibt eigentlich recht schulmeisterlich; es wundert mich aber nicht, sie sah immer aus wie ein verkleideter Kandidat." Dann, nach einiger Zeit, schlug sie die Hände ineinander und seufzte: "Gott, wenn ich denke, wie wir als Mädchen waren, lauter Gefühl und Heiterkeit und Natürlichkeit, und jetzt gehen sie alle herum mit Büchern unterm Arm und Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen. Wedel, 26. Oktober 1892. Lieber Axel! Du schreibst mir in einem Ton, als ob ich Deine Achtung völlig verscherzt hätte. Wir verstehen uns mal wieder nicht. Wir fühlen nämlich zu verschieden, und das macht mich noch doppelt traurig, Deine ewige Härte und Ungerechtigkeit! Und Du weißt doch, daß ich ohnehin kein leichtes Leben habe. So mißtrauisch sind sie gegen mich, als wäre ich eine Fremde! Neulich traf ich Mama mit einem Brief in der Hand, den sie aus meiner Kleidertasche gezogen hatte. Es war ein Brief von Agnes, weißt Du, die jetzt in England Erzieherin ist. Sie antwortete mir so auf allerlei Anfragen. Ich war sehr verlegen in Mamas Seele hinein, aber Mama gar nicht. „Da Du nicht geruht hast, mir den Brief Deiner Freundin mitzutheilen, so habe ich ihn selbst gelesen,“ sagte sie in strafendem Ton. Sie brauchte das Wort „geruht“ mit einem ironischen Nachdruck. „Ich muß doch wissen, was für Korrespondenzen Du führst,“ fügte sie dann hinzu; „Agnes schreibt eigentlich recht schulmeisterlich; es wundert mich aber nicht, sie sah immer aus wie ein verkleideter Kandidat.“ Dann, nach einiger Zeit, schlug sie die Hände ineinander und seufzte: „Gott, wenn ich denke, wie wir als Mädchen waren, lauter Gefühl und Heiterkeit und Natürlichkeit, und jetzt gehen sie alle herum mit Büchern unterm Arm und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div type="letter" n="2"> <pb facs="#f0345" n="337"/> </div> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div type="letter" n="2"> <head>Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen.</head> <opener> <dateline> <hi rendition="#right">Wedel, 26. Oktober 1892.</hi> </dateline> </opener> <p>Lieber Axel! Du schreibst mir in einem Ton, als ob ich Deine Achtung völlig verscherzt hätte. Wir verstehen uns mal wieder nicht. Wir fühlen nämlich zu verschieden, und das macht mich noch doppelt traurig, Deine ewige Härte und Ungerechtigkeit! Und Du weißt doch, daß ich ohnehin kein leichtes Leben habe. So mißtrauisch sind sie gegen mich, als wäre ich eine Fremde! Neulich traf ich Mama mit einem Brief in der Hand, den sie aus meiner Kleidertasche gezogen hatte. Es war ein Brief von Agnes, weißt Du, die jetzt in England Erzieherin ist. Sie antwortete mir so auf allerlei Anfragen. Ich war sehr verlegen in Mamas Seele hinein, aber Mama gar nicht. „Da Du nicht geruht hast, mir den Brief Deiner Freundin mitzutheilen, so habe ich ihn selbst gelesen,“ sagte sie in strafendem Ton. Sie brauchte das Wort „geruht“ mit einem ironischen Nachdruck. „Ich muß doch wissen, was für Korrespondenzen Du führst,“ fügte sie dann hinzu; „Agnes schreibt eigentlich recht schulmeisterlich; es wundert mich aber nicht, sie sah immer aus wie ein verkleideter Kandidat.“ Dann, nach einiger Zeit, schlug sie die Hände ineinander und seufzte: „Gott, wenn ich denke, wie wir als Mädchen waren, lauter Gefühl und Heiterkeit und Natürlichkeit, und jetzt gehen sie alle herum mit Büchern unterm Arm und </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [337/0345]
Lisbeth Markwort an Axel Lorenzen. Wedel, 26. Oktober 1892. Lieber Axel! Du schreibst mir in einem Ton, als ob ich Deine Achtung völlig verscherzt hätte. Wir verstehen uns mal wieder nicht. Wir fühlen nämlich zu verschieden, und das macht mich noch doppelt traurig, Deine ewige Härte und Ungerechtigkeit! Und Du weißt doch, daß ich ohnehin kein leichtes Leben habe. So mißtrauisch sind sie gegen mich, als wäre ich eine Fremde! Neulich traf ich Mama mit einem Brief in der Hand, den sie aus meiner Kleidertasche gezogen hatte. Es war ein Brief von Agnes, weißt Du, die jetzt in England Erzieherin ist. Sie antwortete mir so auf allerlei Anfragen. Ich war sehr verlegen in Mamas Seele hinein, aber Mama gar nicht. „Da Du nicht geruht hast, mir den Brief Deiner Freundin mitzutheilen, so habe ich ihn selbst gelesen,“ sagte sie in strafendem Ton. Sie brauchte das Wort „geruht“ mit einem ironischen Nachdruck. „Ich muß doch wissen, was für Korrespondenzen Du führst,“ fügte sie dann hinzu; „Agnes schreibt eigentlich recht schulmeisterlich; es wundert mich aber nicht, sie sah immer aus wie ein verkleideter Kandidat.“ Dann, nach einiger Zeit, schlug sie die Hände ineinander und seufzte: „Gott, wenn ich denke, wie wir als Mädchen waren, lauter Gefühl und Heiterkeit und Natürlichkeit, und jetzt gehen sie alle herum mit Büchern unterm Arm und
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