Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie sich auf einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille Straße hinaus. Wenn da doch Lärm und Streit gewesen wäre; aber nur der Sonnenschein lag auf dem chaussierten Wege und dazwischen die Schatten, die das Gitter und die Bäume warfen. Das Gefühl des Alleinseins in der Welt überkam sie mit seiner ganzen Schwere. Vor einer Stunde noch eine glückliche Frau, Liebling aller, die sie kannten, und nun ausgestoßen. Sie hatte nur erst den Anfang des Briefes gelesen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben. Wohin? Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war sie voll tiefer Sehnsucht, aus dem herauszukommen, was sie hier umgab, also fort von dieser Geheimrätin, der das alles bloß ein "interessanter Fall" war, und deren Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Maß ihrer Neugier nicht heran reichte.
Einunddreißigſtes Kapitel.
Minuten vergingen. Als Effi ſich wieder erholt hatte, ſetzte ſie ſich auf einen am Fenſter ſtehenden Stuhl und ſah auf die ſtille Straße hinaus. Wenn da doch Lärm und Streit geweſen wäre; aber nur der Sonnenſchein lag auf dem chauſſierten Wege und dazwiſchen die Schatten, die das Gitter und die Bäume warfen. Das Gefühl des Alleinſeins in der Welt überkam ſie mit ſeiner ganzen Schwere. Vor einer Stunde noch eine glückliche Frau, Liebling aller, die ſie kannten, und nun ausgeſtoßen. Sie hatte nur erſt den Anfang des Briefes geleſen, aber genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben. Wohin? Sie hatte keine Antwort darauf, und doch war ſie voll tiefer Sehnſucht, aus dem herauszukommen, was ſie hier umgab, alſo fort von dieſer Geheimrätin, der das alles bloß ein „intereſſanter Fall“ war, und deren Teilnahme, wenn etwas davon exiſtierte, ſicher an das Maß ihrer Neugier nicht heran reichte.
<TEI><text><body><pbfacs="#f0455"n="[446]"/><divn="1"><head><hirendition="#g">Einunddreißigſtes Kapitel.</hi><lb/></head><p>Minuten vergingen. Als Effi ſich wieder erholt<lb/>
hatte, ſetzte ſie ſich auf einen am Fenſter ſtehenden<lb/>
Stuhl und ſah auf die ſtille Straße hinaus. Wenn<lb/>
da doch Lärm und Streit geweſen wäre; aber nur<lb/>
der Sonnenſchein lag auf dem chauſſierten Wege<lb/>
und dazwiſchen die Schatten, die das Gitter und<lb/>
die Bäume warfen. Das Gefühl des Alleinſeins in<lb/>
der Welt überkam ſie mit ſeiner ganzen Schwere.<lb/>
Vor einer Stunde noch eine glückliche Frau, Liebling<lb/>
aller, die ſie kannten, und nun ausgeſtoßen. Sie<lb/>
hatte nur erſt den Anfang des Briefes geleſen, aber<lb/>
genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben.<lb/>
Wohin? Sie hatte keine Antwort darauf, und doch<lb/>
war ſie voll tiefer Sehnſucht, aus dem herauszukommen,<lb/>
was ſie hier umgab, alſo fort von dieſer Geheimrätin,<lb/>
der das alles bloß ein „intereſſanter Fall“ war,<lb/>
und deren Teilnahme, wenn etwas davon exiſtierte,<lb/>ſicher an das Maß ihrer Neugier nicht heran reichte.</p><lb/></div></body></text></TEI>
[[446]/0455]
Einunddreißigſtes Kapitel.
Minuten vergingen. Als Effi ſich wieder erholt
hatte, ſetzte ſie ſich auf einen am Fenſter ſtehenden
Stuhl und ſah auf die ſtille Straße hinaus. Wenn
da doch Lärm und Streit geweſen wäre; aber nur
der Sonnenſchein lag auf dem chauſſierten Wege
und dazwiſchen die Schatten, die das Gitter und
die Bäume warfen. Das Gefühl des Alleinſeins in
der Welt überkam ſie mit ſeiner ganzen Schwere.
Vor einer Stunde noch eine glückliche Frau, Liebling
aller, die ſie kannten, und nun ausgeſtoßen. Sie
hatte nur erſt den Anfang des Briefes geleſen, aber
genug, um ihre Lage klar vor Augen zu haben.
Wohin? Sie hatte keine Antwort darauf, und doch
war ſie voll tiefer Sehnſucht, aus dem herauszukommen,
was ſie hier umgab, alſo fort von dieſer Geheimrätin,
der das alles bloß ein „intereſſanter Fall“ war,
und deren Teilnahme, wenn etwas davon exiſtierte,
ſicher an das Maß ihrer Neugier nicht heran reichte.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Fontane, Theodor: Effi Briest. Berlin, 1896, S. [446]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_briest_1896/455>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.