Was im Allgemeinen, selbst in Beziehung auf die sinn- lichen Gegenstände, von dem Verhältniß des Subjects zum Object bisher behauptet wurde, das gilt insbesondere von dem Verhältniß des Subjects zum religiösen Gegenstande.
Im Verhältniß zu den sinnlichen Gegenständen ist das Bewußtsein des Gegenstandes wohl unterscheidbar vom Selbst- bewußtsein; aber bei dem religiösen Gegenstand fällt das Be- wußtsein mit dem Selbstbewußtsein unmittelbar zusammen. Der sinnliche Gegenstand ist außer dem Menschen da, der religiöse in ihm, ein selbst innerlicher -- darum ein Ge- genstand, der ihn eben so wenig verläßt, als ihn sein Selbst- bewußtsein, sein Gewissen verläßt -- ein intimer, ja der al- lerintimste, der allernächste Gegenstand. "Gott, sagt Augu- stin und Malebranche, ist uns näher als wir uns selbst. Gott ist enger mit uns verbunden als der Leib mit der Seele, als wir mit uns selbst." Der sinnliche Gegenstand ist an sich ein indifferenter, unabhängig von der Gesinnung, von der Urtheilskraft; der Gegenstand der Religion aber ist ein aus- erlesener Gegenstand: das vorzüglichste, das erste, das höchste Wesen; er setzt wesentlich ein kritisches Urtheil voraus, den Unterschied zwischen dem Göttlichen und Nichtgöttlichen, dem Anbetungswürdigen und Nichtanbetungswürdigen*). Und hier gilt daher ohne alle Einschränkung der Satz: der Gegen- stand des Subjects ist nichts andres als das gegenständ- liche Wesen des Subjects selbst. Wie der Mensch sich Gegenstand, so ist ihm Gott Gegenstand; wie er denkt, wie er
*)Unusquisque vestrum non cogitat, prius se debere Deum nosse, quam colere. M. Minucii Felicis Octavianus. c. 24.
Feuerbach. 2
Das Weſen der Religion im Allgemeinen.
Was im Allgemeinen, ſelbſt in Beziehung auf die ſinn- lichen Gegenſtände, von dem Verhältniß des Subjects zum Object bisher behauptet wurde, das gilt insbeſondere von dem Verhältniß des Subjects zum religiöſen Gegenſtande.
Im Verhältniß zu den ſinnlichen Gegenſtänden iſt das Bewußtſein des Gegenſtandes wohl unterſcheidbar vom Selbſt- bewußtſein; aber bei dem religiöſen Gegenſtand fällt das Be- wußtſein mit dem Selbſtbewußtſein unmittelbar zuſammen. Der ſinnliche Gegenſtand iſt außer dem Menſchen da, der religiöſe in ihm, ein ſelbſt innerlicher — darum ein Ge- genſtand, der ihn eben ſo wenig verläßt, als ihn ſein Selbſt- bewußtſein, ſein Gewiſſen verläßt — ein intimer, ja der al- lerintimſte, der allernächſte Gegenſtand. „Gott, ſagt Augu- ſtin und Malebranche, iſt uns näher als wir uns ſelbſt. Gott iſt enger mit uns verbunden als der Leib mit der Seele, als wir mit uns ſelbſt.“ Der ſinnliche Gegenſtand iſt an ſich ein indifferenter, unabhängig von der Geſinnung, von der Urtheilskraft; der Gegenſtand der Religion aber iſt ein aus- erleſener Gegenſtand: das vorzüglichſte, das erſte, das höchſte Weſen; er ſetzt weſentlich ein kritiſches Urtheil voraus, den Unterſchied zwiſchen dem Göttlichen und Nichtgöttlichen, dem Anbetungswürdigen und Nichtanbetungswürdigen*). Und hier gilt daher ohne alle Einſchränkung der Satz: der Gegen- ſtand des Subjects iſt nichts andres als das gegenſtänd- liche Weſen des Subjects ſelbſt. Wie der Menſch ſich Gegenſtand, ſo iſt ihm Gott Gegenſtand; wie er denkt, wie er
*)Unusquisque vestrum non cogitat, prius se debere Deum nosse, quam colere. M. Minucii Felicis Octavianus. c. 24.
Feuerbach. 2
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0035"n="17"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Das Weſen der Religion im Allgemeinen.</hi></head><lb/><p>Was im Allgemeinen, ſelbſt in Beziehung auf die ſinn-<lb/>
lichen Gegenſtände, von dem Verhältniß des Subjects zum<lb/>
Object bisher behauptet wurde, das gilt <hirendition="#g">insbeſondere</hi> von<lb/>
dem Verhältniß des Subjects zum <hirendition="#g">religiöſen Gegenſtande</hi>.</p><lb/><p>Im Verhältniß zu den ſinnlichen Gegenſtänden iſt das<lb/>
Bewußtſein des Gegenſtandes wohl unterſcheidbar vom Selbſt-<lb/>
bewußtſein; aber bei dem religiöſen Gegenſtand fällt das Be-<lb/>
wußtſein mit dem Selbſtbewußtſein unmittelbar zuſammen.<lb/>
Der ſinnliche Gegenſtand iſt <hirendition="#g">außer</hi> dem Menſchen da, der<lb/>
religiöſe <hirendition="#g">in ihm</hi>, ein ſelbſt <hirendition="#g">innerlicher</hi>— darum ein Ge-<lb/>
genſtand, der ihn eben ſo wenig verläßt, als ihn ſein Selbſt-<lb/>
bewußtſein, ſein Gewiſſen verläßt — ein intimer, ja der al-<lb/>
lerintimſte, der allernächſte Gegenſtand. „Gott, ſagt Augu-<lb/>ſtin und Malebranche, iſt uns näher als wir uns ſelbſt. Gott<lb/>
iſt enger mit uns verbunden als der Leib mit der Seele, als<lb/>
wir mit uns ſelbſt.“ Der ſinnliche Gegenſtand iſt <hirendition="#g">an ſich</hi><lb/>
ein <hirendition="#g">indifferenter</hi>, unabhängig von der Geſinnung, von der<lb/>
Urtheilskraft; der Gegenſtand der Religion aber iſt ein <hirendition="#g">aus-<lb/>
erleſener</hi> Gegenſtand: das vorzüglichſte, das erſte, das höchſte<lb/>
Weſen; er ſetzt weſentlich ein <hirendition="#g">kritiſches Urtheil</hi> voraus, den<lb/><hirendition="#g">Unterſchied</hi> zwiſchen dem Göttlichen und Nichtgöttlichen, dem<lb/>
Anbetungswürdigen und Nichtanbetungswürdigen<noteplace="foot"n="*)"><hirendition="#aq">Unusquisque vestrum non cogitat, <hirendition="#g">prius se debere Deum<lb/>
nosse, quam colere. M. Minucii Felicis Octavianus</hi>. c. 24.</hi></note>. Und hier<lb/>
gilt daher <hirendition="#g">ohne alle Einſchränkung</hi> der Satz: der Gegen-<lb/>ſtand des Subjects iſt nichts andres als das <hirendition="#g">gegenſtänd-<lb/>
liche Weſen des Subjects</hi>ſelbſt. Wie der Menſch ſich<lb/>
Gegenſtand, ſo iſt ihm Gott Gegenſtand; wie er denkt, wie er<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#g">Feuerbach</hi>. 2</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[17/0035]
Das Weſen der Religion im Allgemeinen.
Was im Allgemeinen, ſelbſt in Beziehung auf die ſinn-
lichen Gegenſtände, von dem Verhältniß des Subjects zum
Object bisher behauptet wurde, das gilt insbeſondere von
dem Verhältniß des Subjects zum religiöſen Gegenſtande.
Im Verhältniß zu den ſinnlichen Gegenſtänden iſt das
Bewußtſein des Gegenſtandes wohl unterſcheidbar vom Selbſt-
bewußtſein; aber bei dem religiöſen Gegenſtand fällt das Be-
wußtſein mit dem Selbſtbewußtſein unmittelbar zuſammen.
Der ſinnliche Gegenſtand iſt außer dem Menſchen da, der
religiöſe in ihm, ein ſelbſt innerlicher — darum ein Ge-
genſtand, der ihn eben ſo wenig verläßt, als ihn ſein Selbſt-
bewußtſein, ſein Gewiſſen verläßt — ein intimer, ja der al-
lerintimſte, der allernächſte Gegenſtand. „Gott, ſagt Augu-
ſtin und Malebranche, iſt uns näher als wir uns ſelbſt. Gott
iſt enger mit uns verbunden als der Leib mit der Seele, als
wir mit uns ſelbſt.“ Der ſinnliche Gegenſtand iſt an ſich
ein indifferenter, unabhängig von der Geſinnung, von der
Urtheilskraft; der Gegenſtand der Religion aber iſt ein aus-
erleſener Gegenſtand: das vorzüglichſte, das erſte, das höchſte
Weſen; er ſetzt weſentlich ein kritiſches Urtheil voraus, den
Unterſchied zwiſchen dem Göttlichen und Nichtgöttlichen, dem
Anbetungswürdigen und Nichtanbetungswürdigen *). Und hier
gilt daher ohne alle Einſchränkung der Satz: der Gegen-
ſtand des Subjects iſt nichts andres als das gegenſtänd-
liche Weſen des Subjects ſelbſt. Wie der Menſch ſich
Gegenſtand, ſo iſt ihm Gott Gegenſtand; wie er denkt, wie er
*) Unusquisque vestrum non cogitat, prius se debere Deum
nosse, quam colere. M. Minucii Felicis Octavianus. c. 24.
Feuerbach. 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/35>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.