Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Wesen der Religion im Allgemeinen.

Was im Allgemeinen, selbst in Beziehung auf die sinn-
lichen Gegenstände, von dem Verhältniß des Subjects zum
Object bisher behauptet wurde, das gilt insbesondere von
dem Verhältniß des Subjects zum religiösen Gegenstande.

Im Verhältniß zu den sinnlichen Gegenständen ist das
Bewußtsein des Gegenstandes wohl unterscheidbar vom Selbst-
bewußtsein; aber bei dem religiösen Gegenstand fällt das Be-
wußtsein mit dem Selbstbewußtsein unmittelbar zusammen.
Der sinnliche Gegenstand ist außer dem Menschen da, der
religiöse in ihm, ein selbst innerlicher -- darum ein Ge-
genstand, der ihn eben so wenig verläßt, als ihn sein Selbst-
bewußtsein, sein Gewissen verläßt -- ein intimer, ja der al-
lerintimste, der allernächste Gegenstand. "Gott, sagt Augu-
stin und Malebranche, ist uns näher als wir uns selbst. Gott
ist enger mit uns verbunden als der Leib mit der Seele, als
wir mit uns selbst." Der sinnliche Gegenstand ist an sich
ein indifferenter, unabhängig von der Gesinnung, von der
Urtheilskraft; der Gegenstand der Religion aber ist ein aus-
erlesener
Gegenstand: das vorzüglichste, das erste, das höchste
Wesen; er setzt wesentlich ein kritisches Urtheil voraus, den
Unterschied zwischen dem Göttlichen und Nichtgöttlichen, dem
Anbetungswürdigen und Nichtanbetungswürdigen*). Und hier
gilt daher ohne alle Einschränkung der Satz: der Gegen-
stand des Subjects ist nichts andres als das gegenständ-
liche Wesen des Subjects
selbst. Wie der Mensch sich
Gegenstand, so ist ihm Gott Gegenstand; wie er denkt, wie er

*) Unusquisque vestrum non cogitat, prius se debere Deum
nosse, quam colere. M. Minucii Felicis Octavianus
. c. 24.
Feuerbach. 2
Das Weſen der Religion im Allgemeinen.

Was im Allgemeinen, ſelbſt in Beziehung auf die ſinn-
lichen Gegenſtände, von dem Verhältniß des Subjects zum
Object bisher behauptet wurde, das gilt insbeſondere von
dem Verhältniß des Subjects zum religiöſen Gegenſtande.

Im Verhältniß zu den ſinnlichen Gegenſtänden iſt das
Bewußtſein des Gegenſtandes wohl unterſcheidbar vom Selbſt-
bewußtſein; aber bei dem religiöſen Gegenſtand fällt das Be-
wußtſein mit dem Selbſtbewußtſein unmittelbar zuſammen.
Der ſinnliche Gegenſtand iſt außer dem Menſchen da, der
religiöſe in ihm, ein ſelbſt innerlicher — darum ein Ge-
genſtand, der ihn eben ſo wenig verläßt, als ihn ſein Selbſt-
bewußtſein, ſein Gewiſſen verläßt — ein intimer, ja der al-
lerintimſte, der allernächſte Gegenſtand. „Gott, ſagt Augu-
ſtin und Malebranche, iſt uns näher als wir uns ſelbſt. Gott
iſt enger mit uns verbunden als der Leib mit der Seele, als
wir mit uns ſelbſt.“ Der ſinnliche Gegenſtand iſt an ſich
ein indifferenter, unabhängig von der Geſinnung, von der
Urtheilskraft; der Gegenſtand der Religion aber iſt ein aus-
erleſener
Gegenſtand: das vorzüglichſte, das erſte, das höchſte
Weſen; er ſetzt weſentlich ein kritiſches Urtheil voraus, den
Unterſchied zwiſchen dem Göttlichen und Nichtgöttlichen, dem
Anbetungswürdigen und Nichtanbetungswürdigen*). Und hier
gilt daher ohne alle Einſchränkung der Satz: der Gegen-
ſtand des Subjects iſt nichts andres als das gegenſtänd-
liche Weſen des Subjects
ſelbſt. Wie der Menſch ſich
Gegenſtand, ſo iſt ihm Gott Gegenſtand; wie er denkt, wie er

*) Unusquisque vestrum non cogitat, prius se debere Deum
nosse, quam colere. M. Minucii Felicis Octavianus
. c. 24.
Feuerbach. 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0035" n="17"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Das We&#x017F;en der Religion im Allgemeinen.</hi> </head><lb/>
          <p>Was im Allgemeinen, &#x017F;elb&#x017F;t in Beziehung auf die &#x017F;inn-<lb/>
lichen Gegen&#x017F;tände, von dem Verhältniß des Subjects zum<lb/>
Object bisher behauptet wurde, das gilt <hi rendition="#g">insbe&#x017F;ondere</hi> von<lb/>
dem Verhältniß des Subjects zum <hi rendition="#g">religiö&#x017F;en Gegen&#x017F;tande</hi>.</p><lb/>
          <p>Im Verhältniß zu den &#x017F;innlichen Gegen&#x017F;tänden i&#x017F;t das<lb/>
Bewußt&#x017F;ein des Gegen&#x017F;tandes wohl unter&#x017F;cheidbar vom Selb&#x017F;t-<lb/>
bewußt&#x017F;ein; aber bei dem religiö&#x017F;en Gegen&#x017F;tand fällt das Be-<lb/>
wußt&#x017F;ein mit dem Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein unmittelbar zu&#x017F;ammen.<lb/>
Der &#x017F;innliche Gegen&#x017F;tand i&#x017F;t <hi rendition="#g">außer</hi> dem Men&#x017F;chen da, der<lb/>
religiö&#x017F;e <hi rendition="#g">in ihm</hi>, ein &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">innerlicher</hi> &#x2014; darum ein Ge-<lb/>
gen&#x017F;tand, der ihn eben &#x017F;o wenig verläßt, als ihn &#x017F;ein Selb&#x017F;t-<lb/>
bewußt&#x017F;ein, &#x017F;ein Gewi&#x017F;&#x017F;en verläßt &#x2014; ein intimer, ja der al-<lb/>
lerintim&#x017F;te, der allernäch&#x017F;te Gegen&#x017F;tand. &#x201E;Gott, &#x017F;agt Augu-<lb/>
&#x017F;tin und Malebranche, i&#x017F;t uns näher als wir uns &#x017F;elb&#x017F;t. Gott<lb/>
i&#x017F;t enger mit uns verbunden als der Leib mit der Seele, als<lb/>
wir mit uns &#x017F;elb&#x017F;t.&#x201C; Der &#x017F;innliche Gegen&#x017F;tand i&#x017F;t <hi rendition="#g">an &#x017F;ich</hi><lb/>
ein <hi rendition="#g">indifferenter</hi>, unabhängig von der Ge&#x017F;innung, von der<lb/>
Urtheilskraft; der Gegen&#x017F;tand der Religion aber i&#x017F;t ein <hi rendition="#g">aus-<lb/>
erle&#x017F;ener</hi> Gegen&#x017F;tand: das vorzüglich&#x017F;te, das er&#x017F;te, das höch&#x017F;te<lb/>
We&#x017F;en; er &#x017F;etzt we&#x017F;entlich ein <hi rendition="#g">kriti&#x017F;ches Urtheil</hi> voraus, den<lb/><hi rendition="#g">Unter&#x017F;chied</hi> zwi&#x017F;chen dem Göttlichen und Nichtgöttlichen, dem<lb/>
Anbetungswürdigen und Nichtanbetungswürdigen<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Unusquisque vestrum non cogitat, <hi rendition="#g">prius se debere Deum<lb/>
nosse, quam colere. M. Minucii Felicis Octavianus</hi>. c. 24.</hi></note>. Und hier<lb/>
gilt daher <hi rendition="#g">ohne alle Ein&#x017F;chränkung</hi> der Satz: der Gegen-<lb/>
&#x017F;tand des Subjects i&#x017F;t nichts andres als das <hi rendition="#g">gegen&#x017F;tänd-<lb/>
liche We&#x017F;en des Subjects</hi> &#x017F;elb&#x017F;t. Wie der Men&#x017F;ch &#x017F;ich<lb/>
Gegen&#x017F;tand, &#x017F;o i&#x017F;t ihm Gott Gegen&#x017F;tand; wie er denkt, wie er<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Feuerbach</hi>. 2</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0035] Das Weſen der Religion im Allgemeinen. Was im Allgemeinen, ſelbſt in Beziehung auf die ſinn- lichen Gegenſtände, von dem Verhältniß des Subjects zum Object bisher behauptet wurde, das gilt insbeſondere von dem Verhältniß des Subjects zum religiöſen Gegenſtande. Im Verhältniß zu den ſinnlichen Gegenſtänden iſt das Bewußtſein des Gegenſtandes wohl unterſcheidbar vom Selbſt- bewußtſein; aber bei dem religiöſen Gegenſtand fällt das Be- wußtſein mit dem Selbſtbewußtſein unmittelbar zuſammen. Der ſinnliche Gegenſtand iſt außer dem Menſchen da, der religiöſe in ihm, ein ſelbſt innerlicher — darum ein Ge- genſtand, der ihn eben ſo wenig verläßt, als ihn ſein Selbſt- bewußtſein, ſein Gewiſſen verläßt — ein intimer, ja der al- lerintimſte, der allernächſte Gegenſtand. „Gott, ſagt Augu- ſtin und Malebranche, iſt uns näher als wir uns ſelbſt. Gott iſt enger mit uns verbunden als der Leib mit der Seele, als wir mit uns ſelbſt.“ Der ſinnliche Gegenſtand iſt an ſich ein indifferenter, unabhängig von der Geſinnung, von der Urtheilskraft; der Gegenſtand der Religion aber iſt ein aus- erleſener Gegenſtand: das vorzüglichſte, das erſte, das höchſte Weſen; er ſetzt weſentlich ein kritiſches Urtheil voraus, den Unterſchied zwiſchen dem Göttlichen und Nichtgöttlichen, dem Anbetungswürdigen und Nichtanbetungswürdigen *). Und hier gilt daher ohne alle Einſchränkung der Satz: der Gegen- ſtand des Subjects iſt nichts andres als das gegenſtänd- liche Weſen des Subjects ſelbſt. Wie der Menſch ſich Gegenſtand, ſo iſt ihm Gott Gegenſtand; wie er denkt, wie er *) Unusquisque vestrum non cogitat, prius se debere Deum nosse, quam colere. M. Minucii Felicis Octavianus. c. 24. Feuerbach. 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/35
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/35>, abgerufen am 21.11.2024.