Der Widerspruch in dem Begriffe der Existenz Gottes.
Die Anschauung des menschlichen Wesens als eines an- dern, für sich existirenden Wesens ist als identisch mit dem Begriffe der Religion ursprünglich eine unwillkührliche, kind- liche, unbefangne. Aber, wenn die Religion an Jahren und mit den Jahren an Verstande zunimmt, wenn innerhalb der Religion die Reflexion über die Religion erwacht, das Be- wußtsein von der Identität des göttlichen Wesens mit dem menschlichen zu dämmern beginnt; so wird die ursprünglich unwillkührliche und harmlose Scheidung Gottes vom Men- schen zu einer absichtlichen, ausstudirten Unterscheidung, welche keinen andern Zweck hat, als diese bereits in das Bewußtsein eingetretne Identität wieder aus dem Bewußtsein wegzu- räumen.
Gott, das objective Wesen der Religion, ist das sich selbst gegenständliche Wesen des Menschen. Die Religion ist das kindliche Wesen der Menschheit. Das Kind sieht sein Wesen, den Menschen außer sich -- als Kind ist der Mensch sich als ein andrer Mensch Gegenstand. Die Religion bejaht, heiligt, vergöttert, d. i. vergegenständlicht das menschliche Wesen. Dieß ist das allgemeine Wesen der Religion. Die bestimmte Reli- gion, den Unterschied der Religionen begründet nur, was vom menschlichen Wesen oder wie dieses Was erfaßt und verge- genständlicht wird, z. B. ob in unmittelbarer Einheit mit der Natur oder im Unterschiede von ihr. Je näher daher die Re- ligion ihrem Ursprunge nach steht, je wahrhafter, je aufrichtiger sie ist, desto weniger verheimlicht sie dieses ihr Wesen. Das heißt: im Ursprunge der Religion ist gar kein qualitativer oder wesentlicher Unterschied zwischen Gott und dem Men-
Der Widerſpruch in dem Begriffe der Exiſtenz Gottes.
Die Anſchauung des menſchlichen Weſens als eines an- dern, für ſich exiſtirenden Weſens iſt als identiſch mit dem Begriffe der Religion urſprünglich eine unwillkührliche, kind- liche, unbefangne. Aber, wenn die Religion an Jahren und mit den Jahren an Verſtande zunimmt, wenn innerhalb der Religion die Reflexion über die Religion erwacht, das Be- wußtſein von der Identität des göttlichen Weſens mit dem menſchlichen zu dämmern beginnt; ſo wird die urſprünglich unwillkührliche und harmloſe Scheidung Gottes vom Men- ſchen zu einer abſichtlichen, ausſtudirten Unterſcheidung, welche keinen andern Zweck hat, als dieſe bereits in das Bewußtſein eingetretne Identität wieder aus dem Bewußtſein wegzu- räumen.
Gott, das objective Weſen der Religion, iſt das ſich ſelbſt gegenſtändliche Weſen des Menſchen. Die Religion iſt das kindliche Weſen der Menſchheit. Das Kind ſieht ſein Weſen, den Menſchen außer ſich — als Kind iſt der Menſch ſich als ein andrer Menſch Gegenſtand. Die Religion bejaht, heiligt, vergöttert, d. i. vergegenſtändlicht das menſchliche Weſen. Dieß iſt das allgemeine Weſen der Religion. Die beſtimmte Reli- gion, den Unterſchied der Religionen begründet nur, was vom menſchlichen Weſen oder wie dieſes Was erfaßt und verge- genſtändlicht wird, z. B. ob in unmittelbarer Einheit mit der Natur oder im Unterſchiede von ihr. Je näher daher die Re- ligion ihrem Urſprunge nach ſteht, je wahrhafter, je aufrichtiger ſie iſt, deſto weniger verheimlicht ſie dieſes ihr Weſen. Das heißt: im Urſprunge der Religion iſt gar kein qualitativer oder weſentlicher Unterſchied zwiſchen Gott und dem Men-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0284"n="266"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Der Widerſpruch in dem Begriffe der Exiſtenz Gottes.</hi></head><lb/><p>Die Anſchauung des menſchlichen Weſens als eines an-<lb/>
dern, für ſich exiſtirenden Weſens iſt als identiſch mit dem<lb/>
Begriffe der Religion urſprünglich eine unwillkührliche, kind-<lb/>
liche, unbefangne. Aber, wenn die Religion an Jahren und<lb/>
mit den Jahren an Verſtande zunimmt, wenn innerhalb der<lb/>
Religion die Reflexion über die Religion erwacht, das Be-<lb/>
wußtſein von der Identität des göttlichen Weſens mit dem<lb/>
menſchlichen zu dämmern beginnt; ſo wird die urſprünglich<lb/>
unwillkührliche und harmloſe Scheidung Gottes vom Men-<lb/>ſchen zu einer abſichtlichen, ausſtudirten Unterſcheidung, welche<lb/>
keinen andern Zweck hat, als dieſe bereits in das Bewußtſein<lb/>
eingetretne Identität wieder aus dem Bewußtſein wegzu-<lb/>
räumen.</p><lb/><p>Gott, das objective Weſen der Religion, iſt das ſich ſelbſt<lb/>
gegenſtändliche Weſen des Menſchen. Die Religion iſt das<lb/>
kindliche Weſen der Menſchheit. Das Kind ſieht ſein Weſen,<lb/>
den Menſchen außer ſich — als Kind iſt der Menſch ſich als<lb/>
ein andrer Menſch Gegenſtand. Die Religion bejaht, heiligt,<lb/>
vergöttert, d. i. vergegenſtändlicht das menſchliche Weſen. Dieß<lb/>
iſt das allgemeine Weſen der Religion. Die beſtimmte Reli-<lb/>
gion, den Unterſchied der Religionen begründet nur, <hirendition="#g">was</hi> vom<lb/>
menſchlichen Weſen oder <hirendition="#g">wie</hi> dieſes Was erfaßt und verge-<lb/>
genſtändlicht wird, z. B. ob in unmittelbarer Einheit mit der<lb/>
Natur oder im Unterſchiede von ihr. Je näher daher die Re-<lb/>
ligion ihrem Urſprunge nach ſteht, je wahrhafter, je aufrichtiger<lb/>ſie iſt, deſto weniger verheimlicht ſie dieſes ihr Weſen. Das<lb/>
heißt: im Urſprunge der Religion iſt gar kein <hirendition="#g">qualitativer</hi><lb/>
oder <hirendition="#g">weſentlicher</hi> Unterſchied zwiſchen Gott und dem Men-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[266/0284]
Der Widerſpruch in dem Begriffe der Exiſtenz Gottes.
Die Anſchauung des menſchlichen Weſens als eines an-
dern, für ſich exiſtirenden Weſens iſt als identiſch mit dem
Begriffe der Religion urſprünglich eine unwillkührliche, kind-
liche, unbefangne. Aber, wenn die Religion an Jahren und
mit den Jahren an Verſtande zunimmt, wenn innerhalb der
Religion die Reflexion über die Religion erwacht, das Be-
wußtſein von der Identität des göttlichen Weſens mit dem
menſchlichen zu dämmern beginnt; ſo wird die urſprünglich
unwillkührliche und harmloſe Scheidung Gottes vom Men-
ſchen zu einer abſichtlichen, ausſtudirten Unterſcheidung, welche
keinen andern Zweck hat, als dieſe bereits in das Bewußtſein
eingetretne Identität wieder aus dem Bewußtſein wegzu-
räumen.
Gott, das objective Weſen der Religion, iſt das ſich ſelbſt
gegenſtändliche Weſen des Menſchen. Die Religion iſt das
kindliche Weſen der Menſchheit. Das Kind ſieht ſein Weſen,
den Menſchen außer ſich — als Kind iſt der Menſch ſich als
ein andrer Menſch Gegenſtand. Die Religion bejaht, heiligt,
vergöttert, d. i. vergegenſtändlicht das menſchliche Weſen. Dieß
iſt das allgemeine Weſen der Religion. Die beſtimmte Reli-
gion, den Unterſchied der Religionen begründet nur, was vom
menſchlichen Weſen oder wie dieſes Was erfaßt und verge-
genſtändlicht wird, z. B. ob in unmittelbarer Einheit mit der
Natur oder im Unterſchiede von ihr. Je näher daher die Re-
ligion ihrem Urſprunge nach ſteht, je wahrhafter, je aufrichtiger
ſie iſt, deſto weniger verheimlicht ſie dieſes ihr Weſen. Das
heißt: im Urſprunge der Religion iſt gar kein qualitativer
oder weſentlicher Unterſchied zwiſchen Gott und dem Men-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/284>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.