Das Geheimniß des christlichen Christus oder des per- sönlichen Gottes.
Die Grunddogmen des Christenthums sind realisirte Her- zenswünsche -- das Wesen des Christenthums ist das Wesen des Gemüths. Es ist gemüthlicher, zu leiden als zu handeln, gemüthlicher, durch einen Andern erlöst und befreit zu werden, als sich selbst zu befreien, gemüthlicher, von einer Person als von der Kraft der Selbstthätigkeit sein Heil abhängig zu ma- chen, gemüthlicher statt des Objects des Strebens ein Object der Liebe zu setzen, gemüthlicher, sich von Gott geliebt zu wis- sen, als sich selbst zu lieben mit der einfachen, natürlichen Selbstliebe, die allen Wesen eingeboren, gemüthlicher, sich in den liebestrahlenden Augen eines andern persönlichen We- sens zu bespiegeln, als in den Hohlspiegel des eignen Selbsts oder in die kalte Tiefe des stillen Oceans der Natur zu schauen, gemüthlicher überhaupt, sich von seinem eignen Gemüthe als von einem andern, aber doch im Grunde demselbigen Wesen afficiren zu lassen, als sich selbst durch die Vernunft zu bestimmen. Das Gemüth ist über- haupt der Casus obliquus des Ich, das Ich im Accusativ. Das Fichte'sche Ich ist gemüthlos, weil der Accusativ dem Nominativ gleich ist, weil es ein Indeclinabile. Aber das Gemüth ist das von sich selbst afficirte und zwar das von sich als wie von einem andern Wesen afficirte Ich -- das passive Ich. Das Gemüth verwandelt das Activum im Menschen in ein Passivum, und das Passivum in ein Activum. Das Denkende ist dem Gemüthe das Gedachte, das Gedachte das Denkende. Das Gemüth ist träumerischer Natur; darum weiß es auch nichts Seligeres, nichts Tieferes
Das Geheimniß des chriſtlichen Chriſtus oder des per- ſönlichen Gottes.
Die Grunddogmen des Chriſtenthums ſind realiſirte Her- zenswünſche — das Weſen des Chriſtenthums iſt das Weſen des Gemüths. Es iſt gemüthlicher, zu leiden als zu handeln, gemüthlicher, durch einen Andern erlöſt und befreit zu werden, als ſich ſelbſt zu befreien, gemüthlicher, von einer Perſon als von der Kraft der Selbſtthätigkeit ſein Heil abhängig zu ma- chen, gemüthlicher ſtatt des Objects des Strebens ein Object der Liebe zu ſetzen, gemüthlicher, ſich von Gott geliebt zu wiſ- ſen, als ſich ſelbſt zu lieben mit der einfachen, natürlichen Selbſtliebe, die allen Weſen eingeboren, gemüthlicher, ſich in den liebeſtrahlenden Augen eines andern perſönlichen We- ſens zu beſpiegeln, als in den Hohlſpiegel des eignen Selbſts oder in die kalte Tiefe des ſtillen Oceans der Natur zu ſchauen, gemüthlicher überhaupt, ſich von ſeinem eignen Gemüthe als von einem andern, aber doch im Grunde demſelbigen Weſen afficiren zu laſſen, als ſich ſelbſt durch die Vernunft zu beſtimmen. Das Gemüth iſt über- haupt der Casus obliquus des Ich, das Ich im Accuſativ. Das Fichte’ſche Ich iſt gemüthlos, weil der Accuſativ dem Nominativ gleich iſt, weil es ein Indeclinabile. Aber das Gemüth iſt das von ſich ſelbſt afficirte und zwar das von ſich als wie von einem andern Weſen afficirte Ich — das paſſive Ich. Das Gemüth verwandelt das Activum im Menſchen in ein Paſſivum, und das Paſſivum in ein Activum. Das Denkende iſt dem Gemüthe das Gedachte, das Gedachte das Denkende. Das Gemüth iſt träumeriſcher Natur; darum weiß es auch nichts Seligeres, nichts Tieferes
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0201"n="183"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Das Geheimniß des chriſtlichen Chriſtus oder des per-<lb/>ſönlichen Gottes.</hi></head><lb/><p>Die Grunddogmen des Chriſtenthums ſind realiſirte Her-<lb/>
zenswünſche — das Weſen des Chriſtenthums iſt das Weſen<lb/>
des Gemüths. Es iſt gemüthlicher, zu leiden als zu handeln,<lb/>
gemüthlicher, durch einen Andern erlöſt und befreit zu werden,<lb/>
als ſich ſelbſt zu befreien, gemüthlicher, von einer Perſon als<lb/>
von der Kraft der Selbſtthätigkeit ſein Heil abhängig zu ma-<lb/>
chen, gemüthlicher ſtatt des Objects des Strebens ein Object<lb/>
der Liebe zu ſetzen, gemüthlicher, ſich von Gott geliebt zu wiſ-<lb/>ſen, als ſich ſelbſt zu lieben mit der einfachen, natürlichen<lb/>
Selbſtliebe, die allen Weſen eingeboren, gemüthlicher, ſich<lb/>
in den liebeſtrahlenden Augen eines andern perſönlichen We-<lb/>ſens zu beſpiegeln, als in den Hohlſpiegel des eignen Selbſts<lb/>
oder in die kalte Tiefe des ſtillen Oceans der Natur zu<lb/>ſchauen, gemüthlicher überhaupt, ſich von <hirendition="#g">ſeinem eignen<lb/>
Gemüthe als von einem andern</hi>, aber doch <hirendition="#g">im Grunde<lb/>
demſelbigen Weſen afficiren</hi> zu laſſen, als ſich ſelbſt<lb/>
durch die Vernunft zu beſtimmen. Das Gemüth iſt über-<lb/>
haupt der <hirendition="#aq">Casus obliquus</hi> des Ich, das <hirendition="#g">Ich im Accuſativ</hi>.<lb/>
Das Fichte’ſche Ich iſt gemüthlos, weil der Accuſativ dem<lb/>
Nominativ gleich iſt, weil es ein Indeclinabile. Aber das<lb/>
Gemüth iſt das <hirendition="#g">von ſich ſelbſt afficirte</hi> und zwar das<lb/><hirendition="#g">von ſich als wie von einem andern Weſen afficirte<lb/>
Ich</hi>— das <hirendition="#g">paſſive</hi> Ich. Das Gemüth verwandelt das<lb/>
Activum im Menſchen in ein Paſſivum, und das Paſſivum in<lb/>
ein Activum. Das Denkende iſt dem Gemüthe das Gedachte,<lb/>
das Gedachte das Denkende. Das Gemüth iſt träumeriſcher<lb/>
Natur; darum weiß es auch nichts Seligeres, nichts Tieferes<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[183/0201]
Das Geheimniß des chriſtlichen Chriſtus oder des per-
ſönlichen Gottes.
Die Grunddogmen des Chriſtenthums ſind realiſirte Her-
zenswünſche — das Weſen des Chriſtenthums iſt das Weſen
des Gemüths. Es iſt gemüthlicher, zu leiden als zu handeln,
gemüthlicher, durch einen Andern erlöſt und befreit zu werden,
als ſich ſelbſt zu befreien, gemüthlicher, von einer Perſon als
von der Kraft der Selbſtthätigkeit ſein Heil abhängig zu ma-
chen, gemüthlicher ſtatt des Objects des Strebens ein Object
der Liebe zu ſetzen, gemüthlicher, ſich von Gott geliebt zu wiſ-
ſen, als ſich ſelbſt zu lieben mit der einfachen, natürlichen
Selbſtliebe, die allen Weſen eingeboren, gemüthlicher, ſich
in den liebeſtrahlenden Augen eines andern perſönlichen We-
ſens zu beſpiegeln, als in den Hohlſpiegel des eignen Selbſts
oder in die kalte Tiefe des ſtillen Oceans der Natur zu
ſchauen, gemüthlicher überhaupt, ſich von ſeinem eignen
Gemüthe als von einem andern, aber doch im Grunde
demſelbigen Weſen afficiren zu laſſen, als ſich ſelbſt
durch die Vernunft zu beſtimmen. Das Gemüth iſt über-
haupt der Casus obliquus des Ich, das Ich im Accuſativ.
Das Fichte’ſche Ich iſt gemüthlos, weil der Accuſativ dem
Nominativ gleich iſt, weil es ein Indeclinabile. Aber das
Gemüth iſt das von ſich ſelbſt afficirte und zwar das
von ſich als wie von einem andern Weſen afficirte
Ich — das paſſive Ich. Das Gemüth verwandelt das
Activum im Menſchen in ein Paſſivum, und das Paſſivum in
ein Activum. Das Denkende iſt dem Gemüthe das Gedachte,
das Gedachte das Denkende. Das Gemüth iſt träumeriſcher
Natur; darum weiß es auch nichts Seligeres, nichts Tieferes
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/201>, abgerufen am 30.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.