Bei Goethe in einer Abendgesellschaft. Die Herren Riemer, Coudray, Meyer, Goethe's Sohn und Frau v. Göthe waren unter den Anwesenden.
Die Studenten in Jena sind in Aufstand begriffen; man hat eine Compagnie Artillerie hingeschickt, um sie zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern, die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder Vorwand der Revolte gegeben. Alle diese Lieder erhielten beim Vorlesen entschiedenen Beifall, besonders wegen des Talentes das darin sichtbar; Goethe selbst fand sie gut und versprach sie mir zur ruhigen Durchsicht.
Nachdem wir darauf eine Zeit lang Kupferstiche und kostbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns die Freude, das Gedicht Charon zu lesen. Die klare, deutliche und energische Art mußte ich bewundern, womit Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine so schöne Declamation gehört. Welches Feuer! Welche Blicke! Und welche Stimme! abwechselnd donnernd, und dann wieder sanft und milde. Vielleicht entwickelte er an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum in dem wir uns befanden; aber doch war in seinem Vortrage nichts, was man hätte hinwegwünschen mögen.
Goethe sprach darauf über Literatur und seine Werke, sowie über Frau v. Stael und Verwandtes. Er be¬ schäftigt sich gegenwärtig mit der Uebersetzung und
Dienstag, den 3. December 1822*.
Bei Goethe in einer Abendgeſellſchaft. Die Herren Riemer, Coudray, Meyer, Goethe's Sohn und Frau v. Göthe waren unter den Anweſenden.
Die Studenten in Jena ſind in Aufſtand begriffen; man hat eine Compagnie Artillerie hingeſchickt, um ſie zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern, die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder Vorwand der Revolte gegeben. Alle dieſe Lieder erhielten beim Vorleſen entſchiedenen Beifall, beſonders wegen des Talentes das darin ſichtbar; Goethe ſelbſt fand ſie gut und verſprach ſie mir zur ruhigen Durchſicht.
Nachdem wir darauf eine Zeit lang Kupferſtiche und koſtbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns die Freude, das Gedicht Charon zu leſen. Die klare, deutliche und energiſche Art mußte ich bewundern, womit Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine ſo ſchöne Declamation gehört. Welches Feuer! Welche Blicke! Und welche Stimme! abwechſelnd donnernd, und dann wieder ſanft und milde. Vielleicht entwickelte er an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum in dem wir uns befanden; aber doch war in ſeinem Vortrage nichts, was man hätte hinwegwünſchen mögen.
Goethe ſprach darauf über Literatur und ſeine Werke, ſowie über Frau v. Stael und Verwandtes. Er be¬ ſchäftigt ſich gegenwärtig mit der Ueberſetzung und
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Dienstag, den 3. December 1822*.
Bei Goethe in einer Abendgeſellſchaft. Die Herren
Riemer, Coudray, Meyer, Goethe's Sohn und Frau
v. Göthe waren unter den Anweſenden.
Die Studenten in Jena ſind in Aufſtand begriffen;
man hat eine Compagnie Artillerie hingeſchickt, um ſie
zu beruhigen. Riemer las eine Sammlung von Liedern,
die man ihnen verboten und die dadurch Anlaß oder
Vorwand der Revolte gegeben. Alle dieſe Lieder
erhielten beim Vorleſen entſchiedenen Beifall, beſonders
wegen des Talentes das darin ſichtbar; Goethe ſelbſt
fand ſie gut und verſprach ſie mir zur ruhigen Durchſicht.
Nachdem wir darauf eine Zeit lang Kupferſtiche und
koſtbare Bücher betrachtet hatten, machte Goethe uns
die Freude, das Gedicht Charon zu leſen. Die klare,
deutliche und energiſche Art mußte ich bewundern, womit
Goethe das Gedicht vortrug. Nie habe ich eine ſo
ſchöne Declamation gehört. Welches Feuer! Welche
Blicke! Und welche Stimme! abwechſelnd donnernd, und
dann wieder ſanft und milde. Vielleicht entwickelte er
an einigen Stellen zu viele Kraft für den kleinen Raum
in dem wir uns befanden; aber doch war in ſeinem
Vortrage nichts, was man hätte hinwegwünſchen mögen.
Goethe ſprach darauf über Literatur und ſeine Werke,
ſowie über Frau v. Stael und Verwandtes. Er be¬
ſchäftigt ſich gegenwärtig mit der Ueberſetzung und
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/28>, abgerufen am 21.11.2024.
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