Ory. Die besten Sänger und Sängerinnen empfing man bey ihrem Auftreten mit Applaus; man sprach wohl in gleichgültigen Scenen, allein bey dem Eintritt guter Arien wurde alles stille, und ein allgemeiner Bey¬ fall lohnte den Sänger. Die Chöre gingen vortrefflich, und ich bewunderte die Präcision, wie Orchester und Stimmen stets zusammentrafen. Jetzt aber, nachdem man die Oper seit der Zeit jeden Abend gegeben hat, ist beym Publicum jede Aufmerksamkeit hin, so daß alles redet und das Haus von einem lauten Getöse summet. Es regt sich kaum eine Hand mehr, und man begreift kaum wie man auf der Bühne noch die Lippe öffnen und im Orchester noch einen Strich thun mag. Man bemerkt auch keinen Eifer und keine Präcision mehr, und der Fremde, der gerne etwas hören möchte, wäre in Verzweiflung, wenn man in so heiterer Umgebung überall verzweifeln könnte.
Mailand, den 30. May 1830, am 1. Pfingsttage.
Ich will noch Einiges notiren was mir bis jetzt in Italien zu bemerken Freude machte, oder sonst ein In¬ teresse erweckte.
Oben auf dem Simplon, in der Einöde von Schnee
Ory. Die beſten Saͤnger und Saͤngerinnen empfing man bey ihrem Auftreten mit Applaus; man ſprach wohl in gleichguͤltigen Scenen, allein bey dem Eintritt guter Arien wurde alles ſtille, und ein allgemeiner Bey¬ fall lohnte den Saͤnger. Die Choͤre gingen vortrefflich, und ich bewunderte die Praͤciſion, wie Orcheſter und Stimmen ſtets zuſammentrafen. Jetzt aber, nachdem man die Oper ſeit der Zeit jeden Abend gegeben hat, iſt beym Publicum jede Aufmerkſamkeit hin, ſo daß alles redet und das Haus von einem lauten Getoͤſe ſummet. Es regt ſich kaum eine Hand mehr, und man begreift kaum wie man auf der Buͤhne noch die Lippe oͤffnen und im Orcheſter noch einen Strich thun mag. Man bemerkt auch keinen Eifer und keine Praͤciſion mehr, und der Fremde, der gerne etwas hoͤren moͤchte, waͤre in Verzweiflung, wenn man in ſo heiterer Umgebung uͤberall verzweifeln koͤnnte.
Mailand, den 30. May 1830, am 1. Pfingſttage.
Ich will noch Einiges notiren was mir bis jetzt in Italien zu bemerken Freude machte, oder ſonſt ein In¬ tereſſe erweckte.
Oben auf dem Simplon, in der Einoͤde von Schnee
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Ory. Die beſten Saͤnger und Saͤngerinnen empfing
man bey ihrem Auftreten mit Applaus; man ſprach
wohl in gleichguͤltigen Scenen, allein bey dem Eintritt
guter Arien wurde alles ſtille, und ein allgemeiner Bey¬
fall lohnte den Saͤnger. Die Choͤre gingen vortrefflich,
und ich bewunderte die Praͤciſion, wie Orcheſter und
Stimmen ſtets zuſammentrafen. Jetzt aber, nachdem
man die Oper ſeit der Zeit jeden Abend gegeben hat,
iſt beym Publicum jede Aufmerkſamkeit hin, ſo daß alles
redet und das Haus von einem lauten Getoͤſe ſummet.
Es regt ſich kaum eine Hand mehr, und man begreift
kaum wie man auf der Buͤhne noch die Lippe oͤffnen
und im Orcheſter noch einen Strich thun mag. Man
bemerkt auch keinen Eifer und keine Praͤciſion mehr,
und der Fremde, der gerne etwas hoͤren moͤchte, waͤre
in Verzweiflung, wenn man in ſo heiterer Umgebung
uͤberall verzweifeln koͤnnte.
Mailand, den 30. May 1830,
am 1. Pfingſttage.
Ich will noch Einiges notiren was mir bis jetzt in
Italien zu bemerken Freude machte, oder ſonſt ein In¬
tereſſe erweckte.
Oben auf dem Simplon, in der Einoͤde von Schnee
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/227>, abgerufen am 21.11.2024.
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