Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Füße in ein wahreres Verhältniß zur Natur zu
stellen."

Wir sprachen über Voltaire Ferneres, und Goethe
recitirte mir das Gedicht les Systemes, woraus ich mir
abnahm, wie sehr er solche Sachen in seiner Jugend
mußte studirt und sich angeeignet haben.

Die erwähnte Übersetzung von Gerard, obgleich grö߬
tentheils in Prosa, lobte Goethe als sehr gelungen.
"Im Deutschen, sagte er, mag ich den Faust nicht
mehr lesen; aber in dieser französischen Übersetzung wirkt
alles wieder durchaus frisch, neu und geistreich."

"Der Faust, fuhr er fort, ist doch ganz etwas In¬
commensurabeles, und alle Versuche, ihn dem Verstand
näher zu bringen, sind vergeblich. Auch muß man be¬
denken, daß der erste Theil aus einem etwas dunkelen
Zustand des Individuums hervorgegangen. Aber eben
dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie mühen sich
daran ab, wie an allen unauflösbaren Problemen."


Heute zum Nachtisch bereitete Goethe mir einen
hohen Genuß, indem er mir die Scene vorlas, wo
Faust zu den Müttern geht.

Das Neue, Ungeahndete des Gegenstandes, so

Fuͤße in ein wahreres Verhaͤltniß zur Natur zu
ſtellen.“

Wir ſprachen uͤber Voltaire Ferneres, und Goethe
recitirte mir das Gedicht les Systèmes, woraus ich mir
abnahm, wie ſehr er ſolche Sachen in ſeiner Jugend
mußte ſtudirt und ſich angeeignet haben.

Die erwaͤhnte Überſetzung von Gérard, obgleich groͤ߬
tentheils in Proſa, lobte Goethe als ſehr gelungen.
„Im Deutſchen, ſagte er, mag ich den Fauſt nicht
mehr leſen; aber in dieſer franzoͤſiſchen Überſetzung wirkt
alles wieder durchaus friſch, neu und geiſtreich.“

„Der Fauſt, fuhr er fort, iſt doch ganz etwas In¬
commenſurabeles, und alle Verſuche, ihn dem Verſtand
naͤher zu bringen, ſind vergeblich. Auch muß man be¬
denken, daß der erſte Theil aus einem etwas dunkelen
Zuſtand des Individuums hervorgegangen. Aber eben
dieſes Dunkel reizt die Menſchen, und ſie muͤhen ſich
daran ab, wie an allen unaufloͤsbaren Problemen.“


Heute zum Nachtiſch bereitete Goethe mir einen
hohen Genuß, indem er mir die Scene vorlas, wo
Fauſt zu den Muͤttern geht.

Das Neue, Ungeahndete des Gegenſtandes, ſo

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="3">
        <div n="4">
          <p><pb facs="#f0180" n="170"/>
Fu&#x0364;ße in ein wahreres Verha&#x0364;ltniß zur Natur zu<lb/>
&#x017F;tellen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Wir &#x017F;prachen u&#x0364;ber Voltaire Ferneres, und Goethe<lb/>
recitirte mir das Gedicht <hi rendition="#aq">les Systèmes</hi>, woraus ich mir<lb/>
abnahm, wie &#x017F;ehr er &#x017F;olche Sachen in &#x017F;einer Jugend<lb/>
mußte &#x017F;tudirt und &#x017F;ich angeeignet haben.</p><lb/>
          <p>Die erwa&#x0364;hnte Über&#x017F;etzung von G<hi rendition="#aq">é</hi>rard, obgleich gro&#x0364;߬<lb/>
tentheils in Pro&#x017F;a, lobte Goethe als &#x017F;ehr gelungen.<lb/>
&#x201E;Im Deut&#x017F;chen, &#x017F;agte er, mag ich den Fau&#x017F;t nicht<lb/>
mehr le&#x017F;en; aber in die&#x017F;er franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Über&#x017F;etzung wirkt<lb/>
alles wieder durchaus fri&#x017F;ch, neu und gei&#x017F;treich.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Der Fau&#x017F;t, fuhr er fort, i&#x017F;t doch ganz etwas In¬<lb/>
commen&#x017F;urabeles, und alle Ver&#x017F;uche, ihn dem Ver&#x017F;tand<lb/>
na&#x0364;her zu bringen, &#x017F;ind vergeblich. Auch muß man be¬<lb/>
denken, daß der er&#x017F;te Theil aus einem etwas dunkelen<lb/>
Zu&#x017F;tand des Individuums hervorgegangen. Aber eben<lb/>
die&#x017F;es Dunkel reizt die Men&#x017F;chen, und &#x017F;ie mu&#x0364;hen &#x017F;ich<lb/>
daran ab, wie an allen unauflo&#x0364;sbaren Problemen.&#x201C;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="4">
          <dateline rendition="#right">Sonntag, den 10. Januar 1830.<lb/></dateline>
          <p>Heute zum Nachti&#x017F;ch bereitete Goethe mir einen<lb/>
hohen Genuß, indem er mir die Scene vorlas, wo<lb/>
Fau&#x017F;t zu den <hi rendition="#g">Mu&#x0364;ttern</hi> geht.</p><lb/>
          <p>Das Neue, Ungeahndete des Gegen&#x017F;tandes, &#x017F;o<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0180] Fuͤße in ein wahreres Verhaͤltniß zur Natur zu ſtellen.“ Wir ſprachen uͤber Voltaire Ferneres, und Goethe recitirte mir das Gedicht les Systèmes, woraus ich mir abnahm, wie ſehr er ſolche Sachen in ſeiner Jugend mußte ſtudirt und ſich angeeignet haben. Die erwaͤhnte Überſetzung von Gérard, obgleich groͤ߬ tentheils in Proſa, lobte Goethe als ſehr gelungen. „Im Deutſchen, ſagte er, mag ich den Fauſt nicht mehr leſen; aber in dieſer franzoͤſiſchen Überſetzung wirkt alles wieder durchaus friſch, neu und geiſtreich.“ „Der Fauſt, fuhr er fort, iſt doch ganz etwas In¬ commenſurabeles, und alle Verſuche, ihn dem Verſtand naͤher zu bringen, ſind vergeblich. Auch muß man be¬ denken, daß der erſte Theil aus einem etwas dunkelen Zuſtand des Individuums hervorgegangen. Aber eben dieſes Dunkel reizt die Menſchen, und ſie muͤhen ſich daran ab, wie an allen unaufloͤsbaren Problemen.“ Sonntag, den 10. Januar 1830. Heute zum Nachtiſch bereitete Goethe mir einen hohen Genuß, indem er mir die Scene vorlas, wo Fauſt zu den Muͤttern geht. Das Neue, Ungeahndete des Gegenſtandes, ſo

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/180
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/180>, abgerufen am 22.12.2024.