Goethe zeigte mir das englische Taschenbuch Keepsake für 1830, mit sehr schönen Kupfern und einigen höchst interessanten Briefen von Lord Byron, die ich zum Nachtische las. Er selbst hatte derweil die neueste fran¬ zösische Übersetzung seines Faust von Gerard zur Hand genommen, worin er blätterte und mitunter zu lesen schien.
"Es gehen mir wunderliche Gedanken durch den Kopf, sagte er, wenn ich bedenke, daß dieses Buch noch jetzt in einer Sprache gilt, in der vor funfzig Jahren Voltaire geherrscht hat. Sie können sich hiebey nicht denken was ich mir denke, und haben keinen Begriff von der Bedeutung, die Voltaire und seine großen Zeit¬ genossen in meiner Jugend hatten, und wie sie die ganze sittliche Welt beherrschten. Es geht aus meiner Bio¬ graphie nicht deutlich hervor was diese Männer für einen Einfluß auf meine Jugend gehabt, und was es mich gekostet, mich gegen sie zu wehren und mich auf eigene
Sonntag, den 3. Januar 1830.
Goethe zeigte mir das engliſche Taſchenbuch Keepsake fuͤr 1830, mit ſehr ſchoͤnen Kupfern und einigen hoͤchſt intereſſanten Briefen von Lord Byron, die ich zum Nachtiſche las. Er ſelbſt hatte derweil die neueſte fran¬ zoͤſiſche Überſetzung ſeines Fauſt von Gérard zur Hand genommen, worin er blaͤtterte und mitunter zu leſen ſchien.
„Es gehen mir wunderliche Gedanken durch den Kopf, ſagte er, wenn ich bedenke, daß dieſes Buch noch jetzt in einer Sprache gilt, in der vor funfzig Jahren Voltaire geherrſcht hat. Sie koͤnnen ſich hiebey nicht denken was ich mir denke, und haben keinen Begriff von der Bedeutung, die Voltaire und ſeine großen Zeit¬ genoſſen in meiner Jugend hatten, und wie ſie die ganze ſittliche Welt beherrſchten. Es geht aus meiner Bio¬ graphie nicht deutlich hervor was dieſe Maͤnner fuͤr einen Einfluß auf meine Jugend gehabt, und was es mich gekoſtet, mich gegen ſie zu wehren und mich auf eigene
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Sonntag, den 3. Januar 1830.
Goethe zeigte mir das engliſche Taſchenbuch Keepsake
fuͤr 1830, mit ſehr ſchoͤnen Kupfern und einigen hoͤchſt
intereſſanten Briefen von Lord Byron, die ich zum
Nachtiſche las. Er ſelbſt hatte derweil die neueſte fran¬
zoͤſiſche Überſetzung ſeines Fauſt von Gérard zur
Hand genommen, worin er blaͤtterte und mitunter zu
leſen ſchien.
„Es gehen mir wunderliche Gedanken durch den
Kopf, ſagte er, wenn ich bedenke, daß dieſes Buch noch
jetzt in einer Sprache gilt, in der vor funfzig Jahren
Voltaire geherrſcht hat. Sie koͤnnen ſich hiebey nicht
denken was ich mir denke, und haben keinen Begriff
von der Bedeutung, die Voltaire und ſeine großen Zeit¬
genoſſen in meiner Jugend hatten, und wie ſie die ganze
ſittliche Welt beherrſchten. Es geht aus meiner Bio¬
graphie nicht deutlich hervor was dieſe Maͤnner fuͤr einen
Einfluß auf meine Jugend gehabt, und was es mich
gekoſtet, mich gegen ſie zu wehren und mich auf eigene
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. [169]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/179>, abgerufen am 21.11.2024.
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