Als ich diesen Abend gegen acht Uhr in Goethe's Hause anfragte, hörte ich, er sey noch nicht vom Gar¬ ten zurückgekehrt. Ich ging ihm daher entgegen und fand ihn im Park auf einer Bank unter kühlen Linden sitzen, seinen Enkel Wolfgang an seiner Seite.
Goethe schien sich meiner Annäherung zu freuen und winkte mir, neben ihm Platz zu nehmen. Wir hatten kaum die ersten flüchtigen Reden des Zusammentreffens abgethan, als das Gespräch sich wieder auf Manzoni wendete.
"Ich sagte Ihnen doch neulich, begann Goethe, daß unserm Dichter in diesem Roman der Historiker zu gute käme, jetzt aber im dritten Bande finde ich, daß der Historiker dem Poeten einen bösen Streich spielt, indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Hi¬ storiker dasteht. Und zwar geschieht dieses bey einer Beschreibung von Krieg, Hungersnoth und Pestilenz, welche Dinge schon an sich widerwärtiger Art sind, und die nun durch das umständliche Detail einer trockenen chro¬ nikenhaften Schilderung unerträglich werden. Der deutsche Übersetzer muß diesen Fehler zu vermeiden suchen, er muß die Beschreibung des Kriegs und der Hungersnoth um einen guten Theil, und die der Pest um zwey
Montag den 23. July 1827.
Als ich dieſen Abend gegen acht Uhr in Goethe's Hauſe anfragte, hoͤrte ich, er ſey noch nicht vom Gar¬ ten zuruͤckgekehrt. Ich ging ihm daher entgegen und fand ihn im Park auf einer Bank unter kuͤhlen Linden ſitzen, ſeinen Enkel Wolfgang an ſeiner Seite.
Goethe ſchien ſich meiner Annaͤherung zu freuen und winkte mir, neben ihm Platz zu nehmen. Wir hatten kaum die erſten fluͤchtigen Reden des Zuſammentreffens abgethan, als das Geſpraͤch ſich wieder auf Manzoni wendete.
„Ich ſagte Ihnen doch neulich, begann Goethe, daß unſerm Dichter in dieſem Roman der Hiſtoriker zu gute kaͤme, jetzt aber im dritten Bande finde ich, daß der Hiſtoriker dem Poeten einen boͤſen Streich ſpielt, indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Hi¬ ſtoriker daſteht. Und zwar geſchieht dieſes bey einer Beſchreibung von Krieg, Hungersnoth und Peſtilenz, welche Dinge ſchon an ſich widerwaͤrtiger Art ſind, und die nun durch das umſtaͤndliche Detail einer trockenen chro¬ nikenhaften Schilderung unertraͤglich werden. Der deutſche Überſetzer muß dieſen Fehler zu vermeiden ſuchen, er muß die Beſchreibung des Kriegs und der Hungersnoth um einen guten Theil, und die der Peſt um zwey
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Montag den 23. July 1827.
Als ich dieſen Abend gegen acht Uhr in Goethe's
Hauſe anfragte, hoͤrte ich, er ſey noch nicht vom Gar¬
ten zuruͤckgekehrt. Ich ging ihm daher entgegen und
fand ihn im Park auf einer Bank unter kuͤhlen Linden
ſitzen, ſeinen Enkel Wolfgang an ſeiner Seite.
Goethe ſchien ſich meiner Annaͤherung zu freuen und
winkte mir, neben ihm Platz zu nehmen. Wir hatten
kaum die erſten fluͤchtigen Reden des Zuſammentreffens
abgethan, als das Geſpraͤch ſich wieder auf Manzoni
wendete.
„Ich ſagte Ihnen doch neulich, begann Goethe,
daß unſerm Dichter in dieſem Roman der Hiſtoriker zu
gute kaͤme, jetzt aber im dritten Bande finde ich, daß
der Hiſtoriker dem Poeten einen boͤſen Streich ſpielt,
indem Herr Manzoni mit einem Mal den Rock des
Poeten auszieht und eine ganze Weile als nackter Hi¬
ſtoriker daſteht. Und zwar geſchieht dieſes bey einer
Beſchreibung von Krieg, Hungersnoth und Peſtilenz,
welche Dinge ſchon an ſich widerwaͤrtiger Art ſind, und
die nun durch das umſtaͤndliche Detail einer trockenen chro¬
nikenhaften Schilderung unertraͤglich werden. Der deutſche
Überſetzer muß dieſen Fehler zu vermeiden ſuchen, er
muß die Beſchreibung des Kriegs und der Hungersnoth
um einen guten Theil, und die der Peſt um zwey
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/399>, abgerufen am 21.11.2024.
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