"Mag seyn, antwortete Goethe, allein hätte ich nicht die Welt durch Anticipation bereits in mir getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben und alle Er¬ forschung und Erfahrung wäre nichts gewesen als ein ganz todtes vergebliches Bemühen. Das Licht ist da und die Farben umgeben uns; allein trügen wir kein Licht und keine Farben im eigenen Auge, so würden wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen."
Sonnabend den 28. Februar 1824.
"Es giebt vortreffliche Menschen, sagte Goethe, die nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu thun ver¬ mögen, sondern deren Natur es verlangt, ihre jedes¬ maligen Gegenstände mit Ruhe tief zu durchdringen. Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man selten von ihnen erlangt was man augenblicklich wünscht, allein auf diesem Wege wird das Höchste geleistet."
Ich brachte das Gespräch auf Ramberg. "Das ist freylich ein Künstler ganz anderer Art, sagte Goethe, ein höchst erfreuliches Talent, und zwar ein improvi¬ sirendes, das nicht seines Gleichen hat. Er verlangte einst in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm den Agamemnon, wie er, von Troja in seine Heimath zurückkehrend, vom Wagen steigt, und wie es ihm unheimlich wird, die Schwelle seines Hauses zu betre¬
I. 9
„Mag ſeyn, antwortete Goethe, allein haͤtte ich nicht die Welt durch Anticipation bereits in mir getragen, ich waͤre mit ſehenden Augen blind geblieben und alle Er¬ forſchung und Erfahrung waͤre nichts geweſen als ein ganz todtes vergebliches Bemuͤhen. Das Licht iſt da und die Farben umgeben uns; allein truͤgen wir kein Licht und keine Farben im eigenen Auge, ſo wuͤrden wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.“
Sonnabend den 28. Februar 1824.
„Es giebt vortreffliche Menſchen, ſagte Goethe, die nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu thun ver¬ moͤgen, ſondern deren Natur es verlangt, ihre jedes¬ maligen Gegenſtaͤnde mit Ruhe tief zu durchdringen. Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man ſelten von ihnen erlangt was man augenblicklich wuͤnſcht, allein auf dieſem Wege wird das Hoͤchſte geleiſtet.“
Ich brachte das Geſpraͤch auf Ramberg. „Das iſt freylich ein Kuͤnſtler ganz anderer Art, ſagte Goethe, ein hoͤchſt erfreuliches Talent, und zwar ein improvi¬ ſirendes, das nicht ſeines Gleichen hat. Er verlangte einſt in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm den Agamemnon, wie er, von Troja in ſeine Heimath zuruͤckkehrend, vom Wagen ſteigt, und wie es ihm unheimlich wird, die Schwelle ſeines Hauſes zu betre¬
I. 9
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0149"n="129"/><p>„Mag ſeyn, antwortete Goethe, allein haͤtte ich nicht<lb/>
die Welt durch Anticipation bereits in mir getragen, ich<lb/>
waͤre mit ſehenden Augen blind geblieben und alle Er¬<lb/>
forſchung und Erfahrung waͤre nichts geweſen als ein<lb/>
ganz todtes vergebliches Bemuͤhen. Das Licht iſt da<lb/>
und die Farben umgeben uns; allein truͤgen wir kein<lb/>
Licht und keine Farben im eigenen Auge, ſo wuͤrden<lb/>
wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.“</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/></div><divn="2"><datelinerendition="#right">Sonnabend den 28. Februar 1824.<lb/></dateline><p>„Es giebt vortreffliche Menſchen, ſagte Goethe, die<lb/>
nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu thun ver¬<lb/>
moͤgen, ſondern deren Natur es verlangt, ihre jedes¬<lb/>
maligen Gegenſtaͤnde mit Ruhe tief zu durchdringen.<lb/>
Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man<lb/>ſelten von ihnen erlangt was man augenblicklich wuͤnſcht,<lb/>
allein auf dieſem Wege wird das Hoͤchſte geleiſtet.“</p><lb/><p>Ich brachte das Geſpraͤch auf <hirendition="#g">Ramberg</hi>. „Das<lb/>
iſt freylich ein Kuͤnſtler ganz anderer Art, ſagte Goethe,<lb/>
ein hoͤchſt erfreuliches Talent, und zwar ein improvi¬<lb/>ſirendes, das nicht ſeines Gleichen hat. Er verlangte<lb/>
einſt in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm<lb/>
den Agamemnon, wie er, von Troja in ſeine Heimath<lb/>
zuruͤckkehrend, vom Wagen ſteigt, und wie es ihm<lb/>
unheimlich wird, die Schwelle ſeines Hauſes zu betre¬<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">I</hi>. 9<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[129/0149]
„Mag ſeyn, antwortete Goethe, allein haͤtte ich nicht
die Welt durch Anticipation bereits in mir getragen, ich
waͤre mit ſehenden Augen blind geblieben und alle Er¬
forſchung und Erfahrung waͤre nichts geweſen als ein
ganz todtes vergebliches Bemuͤhen. Das Licht iſt da
und die Farben umgeben uns; allein truͤgen wir kein
Licht und keine Farben im eigenen Auge, ſo wuͤrden
wir auch außer uns dergleichen nicht wahrnehmen.“
Sonnabend den 28. Februar 1824.
„Es giebt vortreffliche Menſchen, ſagte Goethe, die
nichts aus dem Stegreife, nichts obenhin zu thun ver¬
moͤgen, ſondern deren Natur es verlangt, ihre jedes¬
maligen Gegenſtaͤnde mit Ruhe tief zu durchdringen.
Solche Talente machen uns oft ungeduldig, indem man
ſelten von ihnen erlangt was man augenblicklich wuͤnſcht,
allein auf dieſem Wege wird das Hoͤchſte geleiſtet.“
Ich brachte das Geſpraͤch auf Ramberg. „Das
iſt freylich ein Kuͤnſtler ganz anderer Art, ſagte Goethe,
ein hoͤchſt erfreuliches Talent, und zwar ein improvi¬
ſirendes, das nicht ſeines Gleichen hat. Er verlangte
einſt in Dresden von mir eine Aufgabe. Ich gab ihm
den Agamemnon, wie er, von Troja in ſeine Heimath
zuruͤckkehrend, vom Wagen ſteigt, und wie es ihm
unheimlich wird, die Schwelle ſeines Hauſes zu betre¬
I. 9
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/149>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.