den Stock nach einer einzigen höchst eindrucksvollen Erfah- rung; Menschen, für die man sich nicht interessiert, kann man täglich sehen, ohne sich gelegentlich einmal auf die Farbe ihrer Haare oder Augen besinnen zu können.
Unter gewöhnlichen Umständen freilich sind häufige Wiederholungen unerlässlich, damit die Reproduktion eines Inhalts möglich sei. Vokabeln, grössere Gedichte, Reden ver- mag man bei grösster Anspannung und Begabung nicht durch einmalige Vorführung sich anzueignen. Durch genügende Re- petition gelingt ihre endliche Beherrschung und durch weitere Steigerung der Wiederholungen gewinnen die späteren Re- produktionen an Sicherheit und Leichtigkeit.
Sich selbst überlassen verliert jeder psychische Inhalt allmählich die Fähigkeit des Wiederauflebens oder erleidet doch Einbusse an ihr durch den Einfluss der Zeit. Von der Fülle von Kenntnissen, die man sich für die Bedürfnisse eines Examens einprägt, ist derjenige Teil, der durch die frühere Beschäftigung nicht genügend fundiert war und durch die spätere nicht genügend aufgefrischt wird, bald verflogen. Aber selbst ein so früh und tief Fundiertes wie die Muttersprache wird durch mehrjährigen Nichtgebrauch merklich geschädigt.
§ 3. Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das Gedächtnis.
Das vorstehend skizzierte Bild unseres Wissens vom Ge- dächtnis macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Psychologie kennt noch eine Reihe von Sätzen, die sich ihm einfügen liessen: "wer schnell lernt, vergisst auch schnell", "relativ lange Vorstellungsreihen haften fester als relativ kurze", "der alternde Mensch vergisst das Spätestgelernte am
den Stock nach einer einzigen höchst eindrucksvollen Erfah- rung; Menschen, für die man sich nicht interessiert, kann man täglich sehen, ohne sich gelegentlich einmal auf die Farbe ihrer Haare oder Augen besinnen zu können.
Unter gewöhnlichen Umständen freilich sind häufige Wiederholungen unerläſslich, damit die Reproduktion eines Inhalts möglich sei. Vokabeln, gröſsere Gedichte, Reden ver- mag man bei gröſster Anspannung und Begabung nicht durch einmalige Vorführung sich anzueignen. Durch genügende Re- petition gelingt ihre endliche Beherrschung und durch weitere Steigerung der Wiederholungen gewinnen die späteren Re- produktionen an Sicherheit und Leichtigkeit.
Sich selbst überlassen verliert jeder psychische Inhalt allmählich die Fähigkeit des Wiederauflebens oder erleidet doch Einbuſse an ihr durch den Einfluſs der Zeit. Von der Fülle von Kenntnissen, die man sich für die Bedürfnisse eines Examens einprägt, ist derjenige Teil, der durch die frühere Beschäftigung nicht genügend fundiert war und durch die spätere nicht genügend aufgefrischt wird, bald verflogen. Aber selbst ein so früh und tief Fundiertes wie die Muttersprache wird durch mehrjährigen Nichtgebrauch merklich geschädigt.
§ 3. Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das Gedächtnis.
Das vorstehend skizzierte Bild unseres Wissens vom Ge- dächtnis macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Psychologie kennt noch eine Reihe von Sätzen, die sich ihm einfügen lieſsen: „wer schnell lernt, vergiſst auch schnell“, „relativ lange Vorstellungsreihen haften fester als relativ kurze“, „der alternde Mensch vergiſst das Spätestgelernte am
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0021"n="5"/>
den Stock nach einer einzigen höchst eindrucksvollen Erfah-<lb/>
rung; Menschen, für die man sich nicht interessiert, kann<lb/>
man täglich sehen, ohne sich gelegentlich einmal auf die Farbe<lb/>
ihrer Haare oder Augen besinnen zu können.</p><lb/><p>Unter gewöhnlichen Umständen freilich sind <hirendition="#g">häufige<lb/>
Wiederholungen</hi> unerläſslich, damit die Reproduktion eines<lb/>
Inhalts möglich sei. Vokabeln, gröſsere Gedichte, Reden ver-<lb/>
mag man bei gröſster Anspannung und Begabung nicht durch<lb/>
einmalige Vorführung sich anzueignen. Durch genügende Re-<lb/>
petition gelingt ihre endliche Beherrschung und durch weitere<lb/>
Steigerung der Wiederholungen gewinnen die späteren Re-<lb/>
produktionen an Sicherheit und Leichtigkeit.</p><lb/><p>Sich selbst überlassen verliert jeder psychische Inhalt<lb/>
allmählich die Fähigkeit des Wiederauflebens oder erleidet<lb/>
doch Einbuſse an ihr durch den Einfluſs der <hirendition="#g">Zeit</hi>. Von der<lb/>
Fülle von Kenntnissen, die man sich für die Bedürfnisse eines<lb/>
Examens einprägt, ist derjenige Teil, der durch die frühere<lb/>
Beschäftigung nicht genügend fundiert war und durch die<lb/>
spätere nicht genügend aufgefrischt wird, bald verflogen. Aber<lb/>
selbst ein so früh und tief Fundiertes wie die Muttersprache<lb/>
wird durch mehrjährigen Nichtgebrauch merklich geschädigt.</p></div><lb/><divn="2"><head>§ 3.<lb/><hirendition="#b">Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das<lb/>
Gedächtnis.</hi></head><lb/><p>Das vorstehend skizzierte Bild unseres Wissens vom Ge-<lb/>
dächtnis macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die<lb/>
Psychologie kennt noch eine Reihe von Sätzen, die sich ihm<lb/>
einfügen lieſsen: „wer schnell lernt, vergiſst auch schnell“,<lb/>„relativ lange Vorstellungsreihen haften fester als relativ<lb/>
kurze“, „der alternde Mensch vergiſst das Spätestgelernte am<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[5/0021]
den Stock nach einer einzigen höchst eindrucksvollen Erfah-
rung; Menschen, für die man sich nicht interessiert, kann
man täglich sehen, ohne sich gelegentlich einmal auf die Farbe
ihrer Haare oder Augen besinnen zu können.
Unter gewöhnlichen Umständen freilich sind häufige
Wiederholungen unerläſslich, damit die Reproduktion eines
Inhalts möglich sei. Vokabeln, gröſsere Gedichte, Reden ver-
mag man bei gröſster Anspannung und Begabung nicht durch
einmalige Vorführung sich anzueignen. Durch genügende Re-
petition gelingt ihre endliche Beherrschung und durch weitere
Steigerung der Wiederholungen gewinnen die späteren Re-
produktionen an Sicherheit und Leichtigkeit.
Sich selbst überlassen verliert jeder psychische Inhalt
allmählich die Fähigkeit des Wiederauflebens oder erleidet
doch Einbuſse an ihr durch den Einfluſs der Zeit. Von der
Fülle von Kenntnissen, die man sich für die Bedürfnisse eines
Examens einprägt, ist derjenige Teil, der durch die frühere
Beschäftigung nicht genügend fundiert war und durch die
spätere nicht genügend aufgefrischt wird, bald verflogen. Aber
selbst ein so früh und tief Fundiertes wie die Muttersprache
wird durch mehrjährigen Nichtgebrauch merklich geschädigt.
§ 3.
Mangelhaftigkeit unseres Wissens über das
Gedächtnis.
Das vorstehend skizzierte Bild unseres Wissens vom Ge-
dächtnis macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die
Psychologie kennt noch eine Reihe von Sätzen, die sich ihm
einfügen lieſsen: „wer schnell lernt, vergiſst auch schnell“,
„relativ lange Vorstellungsreihen haften fester als relativ
kurze“, „der alternde Mensch vergiſst das Spätestgelernte am
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/21>, abgerufen am 23.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.