Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Natur und Geschichte.

Es ist hergebracht, den Ausdruck Geschichte auch auf die Natur
anzuwenden. Man spricht von der Naturgeschichte, von der Entwicke-
lungsgeschichte organischer Existenzen, von der Geschichte des Erd-
körpers u. s. w. Und was war die Oken'sche, was ist die Darwin'sche
Theorie anders als das Hervorkehren des wenn man will geschichtlichen
Moments in dem Bereiche der organischen Natur.

Eben so fehlt es nicht an Versuchen, die Geschichte nach den für
die Natur gefundenen Gesetzen, wenigstens nach der für die Natur-
wissenschaften ausgebildeten Methode zu behandeln, auch für die ge-
schichtliche Welt geltend zu machen, dass vitale Erscheinungen auf
physikalische Gesetze zurückführen, so viel sei als für die Wissen-
schaft eine neue Eroberung machen. Man hat die Gestaltungen und
die Bewegung im Bereich des geschichtlichen Lebens als "organische
Entwickelungen" bezeichnet; man hat ihre Gesetze durch statistischen
Calcul begründet; ja man hat als einen besonders bedeutsamen Vorzug
in diesen Bereichen die "Naturwüchsigkeit" zu nennen in Uebung
gebracht.

Unsere Wissenschaft wird wie jede andere die Pflicht und das
Recht haben, die Begriffe, mit denen sie zu thun hat, zu untersuchen
und festzustellen. Wollte sie dieselben aus den Ergebnissen anderer
Wissenschaften entnehmen, so würde sie sich Betrachtungsweisen fügen
und unterordnen müssen, über welche sie keine Controle hat, vielleicht
solchen, von denen sie ihre eigene Selbstständigkeit, ihre Berechtigung
in Frage gestellt sieht; sie würde von daher vielleicht Definitionen des

Natur und Geschichte.

Es ist hergebracht, den Ausdruck Geschichte auch auf die Natur
anzuwenden. Man spricht von der Naturgeschichte, von der Entwicke-
lungsgeschichte organischer Existenzen, von der Geschichte des Erd-
körpers u. s. w. Und was war die Oken’sche, was ist die Darwin’sche
Theorie anders als das Hervorkehren des wenn man will geschichtlichen
Moments in dem Bereiche der organischen Natur.

Eben so fehlt es nicht an Versuchen, die Geschichte nach den für
die Natur gefundenen Gesetzen, wenigstens nach der für die Natur-
wissenschaften ausgebildeten Methode zu behandeln, auch für die ge-
schichtliche Welt geltend zu machen, dass vitale Erscheinungen auf
physikalische Gesetze zurückführen, so viel sei als für die Wissen-
schaft eine neue Eroberung machen. Man hat die Gestaltungen und
die Bewegung im Bereich des geschichtlichen Lebens als „organische
Entwickelungen“ bezeichnet; man hat ihre Gesetze durch statistischen
Calcul begründet; ja man hat als einen besonders bedeutsamen Vorzug
in diesen Bereichen die „Naturwüchsigkeit“ zu nennen in Uebung
gebracht.

Unsere Wissenschaft wird wie jede andere die Pflicht und das
Recht haben, die Begriffe, mit denen sie zu thun hat, zu untersuchen
und festzustellen. Wollte sie dieselben aus den Ergebnissen anderer
Wissenschaften entnehmen, so würde sie sich Betrachtungsweisen fügen
und unterordnen müssen, über welche sie keine Controle hat, vielleicht
solchen, von denen sie ihre eigene Selbstständigkeit, ihre Berechtigung
in Frage gestellt sieht; sie würde von daher vielleicht Definitionen des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0072" n="[63]"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Natur und Geschichte.</hi> </head><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Es ist hergebracht, den Ausdruck Geschichte auch auf die Natur<lb/>
anzuwenden. Man spricht von der Naturgeschichte, von der Entwicke-<lb/>
lungsgeschichte organischer Existenzen, von der Geschichte des Erd-<lb/>
körpers u. s. w. Und was war die Oken&#x2019;sche, was ist die Darwin&#x2019;sche<lb/>
Theorie anders als das Hervorkehren des wenn man will geschichtlichen<lb/>
Moments in dem Bereiche der organischen Natur.</p><lb/>
          <p>Eben so fehlt es nicht an Versuchen, die Geschichte nach den für<lb/>
die Natur gefundenen Gesetzen, wenigstens nach der für die Natur-<lb/>
wissenschaften ausgebildeten Methode zu behandeln, auch für die ge-<lb/>
schichtliche Welt geltend zu machen, dass vitale Erscheinungen auf<lb/>
physikalische Gesetze zurückführen, so viel sei als für die Wissen-<lb/>
schaft eine neue Eroberung machen. Man hat die Gestaltungen und<lb/>
die Bewegung im Bereich des geschichtlichen Lebens als &#x201E;organische<lb/>
Entwickelungen&#x201C; bezeichnet; man hat ihre Gesetze durch statistischen<lb/>
Calcul begründet; ja man hat als einen besonders bedeutsamen Vorzug<lb/>
in diesen Bereichen die &#x201E;Naturwüchsigkeit&#x201C; zu nennen in Uebung<lb/>
gebracht.</p><lb/>
          <p>Unsere Wissenschaft wird wie jede andere die Pflicht und das<lb/>
Recht haben, die Begriffe, mit denen sie zu thun hat, zu untersuchen<lb/>
und festzustellen. Wollte sie dieselben aus den Ergebnissen anderer<lb/>
Wissenschaften entnehmen, so würde sie sich Betrachtungsweisen fügen<lb/>
und unterordnen müssen, über welche sie keine Controle hat, vielleicht<lb/>
solchen, von denen sie ihre eigene Selbstständigkeit, ihre Berechtigung<lb/>
in Frage gestellt sieht; sie würde von daher vielleicht Definitionen des<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[63]/0072] Natur und Geschichte. Es ist hergebracht, den Ausdruck Geschichte auch auf die Natur anzuwenden. Man spricht von der Naturgeschichte, von der Entwicke- lungsgeschichte organischer Existenzen, von der Geschichte des Erd- körpers u. s. w. Und was war die Oken’sche, was ist die Darwin’sche Theorie anders als das Hervorkehren des wenn man will geschichtlichen Moments in dem Bereiche der organischen Natur. Eben so fehlt es nicht an Versuchen, die Geschichte nach den für die Natur gefundenen Gesetzen, wenigstens nach der für die Natur- wissenschaften ausgebildeten Methode zu behandeln, auch für die ge- schichtliche Welt geltend zu machen, dass vitale Erscheinungen auf physikalische Gesetze zurückführen, so viel sei als für die Wissen- schaft eine neue Eroberung machen. Man hat die Gestaltungen und die Bewegung im Bereich des geschichtlichen Lebens als „organische Entwickelungen“ bezeichnet; man hat ihre Gesetze durch statistischen Calcul begründet; ja man hat als einen besonders bedeutsamen Vorzug in diesen Bereichen die „Naturwüchsigkeit“ zu nennen in Uebung gebracht. Unsere Wissenschaft wird wie jede andere die Pflicht und das Recht haben, die Begriffe, mit denen sie zu thun hat, zu untersuchen und festzustellen. Wollte sie dieselben aus den Ergebnissen anderer Wissenschaften entnehmen, so würde sie sich Betrachtungsweisen fügen und unterordnen müssen, über welche sie keine Controle hat, vielleicht solchen, von denen sie ihre eigene Selbstständigkeit, ihre Berechtigung in Frage gestellt sieht; sie würde von daher vielleicht Definitionen des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/72
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. [63]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/72>, abgerufen am 21.11.2024.