Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Thier, die Pflanze, die Dinge der unorganischen Welt verstehen
wir nur zum Theil, nur in gewisser Weise, nach gewissen Beziehungen,
nicht in ihrem individuellen Sein. Indem wir sie nach jenen Beziehun-
gen fassen, sind wir unbedenklich, sie in ihrem individuellen Sein zu ne-
giren, sie zu zerlegen, zu zerstören, sie zu brauchen und zu verbrauchen.

Nur den Menschen, menschlichen Aeusserungen gegenüber sind wir
und fühlen wir uns als unmittelbar gleich; sie sind uns verständlich.
(isos, isemi, istor?)

§. 10.

Die einzelne Aeusserung wird verstanden als Eine Aeusserung
des Innern und in der Projection auf dies Innere; das Innere wird
verstanden in dem Beispiel dieser Aeusserung, als eine centrale Kraft,
die, in sich gleichartig, wie in jeder ihrer peripherischen Erscheinungen
so in dieser sich darstellt,

Das Einzelne wird verstanden in dem Ganzen und das Ganze aus
dem Einzelnen,

Der Verstehende, weil er ein Ich, eine Totalität in sich ist, wie
der, den er zu verstehen hat, ergänzt sich dessen Totalität aus der
einzelnen Aeusserung, und die einzelne Aeusserung aus dessen Totalität.

Das Verstehen ist ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induction
wie Deduction.

§. 11.

Von dem logischen Mechanismus des Verstehens unterscheidet
sich der Act des Verständnisses. Dieser erfolgt unter den dar-
gelegten Bedingungen als unmittelbare Intuition, als ein schöpferischer
Act, wie der Lichtfunken zwischen den sich nahenden electrophoren
Körpern, wie das Empfängniss in der Begattung.

§. 12.

Der Mensch wird, was er seiner Anlage nach ist, Totalität in
sich, erst in dem Verstehen Anderer, in dem Verstandenwerden von
Andern, in den sittlichen Gemeinsamkeiten (Familie, Staat, Volk u. s. w.).

Der Einzelne wird nur relativ Totalität; verstehend und verstanden
ist er nur wie ein Ausdruck der Gemeinsamkeit, deren Glied er ist

Das Thier, die Pflanze, die Dinge der unorganischen Welt verstehen
wir nur zum Theil, nur in gewisser Weise, nach gewissen Beziehungen,
nicht in ihrem individuellen Sein. Indem wir sie nach jenen Beziehun-
gen fassen, sind wir unbedenklich, sie in ihrem individuellen Sein zu ne-
giren, sie zu zerlegen, zu zerstören, sie zu brauchen und zu verbrauchen.

Nur den Menschen, menschlichen Aeusserungen gegenüber sind wir
und fühlen wir uns als unmittelbar gleich; sie sind uns verständlich.
(ἴσος, ἴσημι, ἵστωρ?)

§. 10.

Die einzelne Aeusserung wird verstanden als Eine Aeusserung
des Innern und in der Projection auf dies Innere; das Innere wird
verstanden in dem Beispiel dieser Aeusserung, als eine centrale Kraft,
die, in sich gleichartig, wie in jeder ihrer peripherischen Erscheinungen
so in dieser sich darstellt,

Das Einzelne wird verstanden in dem Ganzen und das Ganze aus
dem Einzelnen,

Der Verstehende, weil er ein Ich, eine Totalität in sich ist, wie
der, den er zu verstehen hat, ergänzt sich dessen Totalität aus der
einzelnen Aeusserung, und die einzelne Aeusserung aus dessen Totalität.

Das Verstehen ist ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induction
wie Deduction.

§. 11.

Von dem logischen Mechanismus des Verstehens unterscheidet
sich der Act des Verständnisses. Dieser erfolgt unter den dar-
gelegten Bedingungen als unmittelbare Intuition, als ein schöpferischer
Act, wie der Lichtfunken zwischen den sich nahenden electrophoren
Körpern, wie das Empfängniss in der Begattung.

§. 12.

Der Mensch wird, was er seiner Anlage nach ist, Totalität in
sich, erst in dem Verstehen Anderer, in dem Verstandenwerden von
Andern, in den sittlichen Gemeinsamkeiten (Familie, Staat, Volk u. s. w.).

Der Einzelne wird nur relativ Totalität; verstehend und verstanden
ist er nur wie ein Ausdruck der Gemeinsamkeit, deren Glied er ist

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0019" n="10"/>
              <p>Das Thier, die Pflanze, die Dinge der unorganischen Welt verstehen<lb/>
wir nur zum Theil, nur in gewisser Weise, nach gewissen Beziehungen,<lb/>
nicht in ihrem individuellen Sein. Indem wir sie nach jenen Beziehun-<lb/>
gen fassen, sind wir unbedenklich, sie in ihrem individuellen Sein zu ne-<lb/>
giren, sie zu zerlegen, zu zerstören, sie zu brauchen und zu verbrauchen.</p><lb/>
              <p>Nur den Menschen, menschlichen Aeusserungen gegenüber sind wir<lb/>
und fühlen wir uns als unmittelbar gleich; sie sind uns verständlich.<lb/>
(&#x1F34;&#x03C3;&#x03BF;&#x03C2;, &#x1F34;&#x03C3;&#x03B7;&#x03BC;&#x03B9;, &#x1F35;&#x03C3;&#x03C4;&#x03C9;&#x03C1;?)</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 10.</head><lb/>
              <p>Die einzelne Aeusserung wird verstanden als Eine Aeusserung<lb/>
des Innern und in der Projection auf dies Innere; das Innere wird<lb/>
verstanden in dem Beispiel dieser Aeusserung, als eine centrale Kraft,<lb/>
die, in sich gleichartig, wie in jeder ihrer peripherischen Erscheinungen<lb/>
so in dieser sich darstellt,</p><lb/>
              <p>Das Einzelne wird verstanden in dem Ganzen und das Ganze aus<lb/>
dem Einzelnen,</p><lb/>
              <p>Der Verstehende, weil er ein Ich, eine Totalität in sich ist, wie<lb/>
der, den er zu verstehen hat, ergänzt sich dessen Totalität aus der<lb/>
einzelnen Aeusserung, und die einzelne Aeusserung aus dessen Totalität.</p><lb/>
              <p>Das Verstehen ist ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induction<lb/>
wie Deduction.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 11.</head><lb/>
              <p>Von dem logischen Mechanismus des Verstehens unterscheidet<lb/>
sich der <hi rendition="#g">Act des Verständnisses</hi>. Dieser erfolgt unter den dar-<lb/>
gelegten Bedingungen als unmittelbare Intuition, als ein schöpferischer<lb/>
Act, wie der Lichtfunken zwischen den sich nahenden electrophoren<lb/>
Körpern, wie das Empfängniss in der Begattung.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 12.</head><lb/>
              <p>Der Mensch wird, was er seiner Anlage nach ist, Totalität in<lb/>
sich, erst in dem Verstehen Anderer, in dem Verstandenwerden von<lb/>
Andern, in den sittlichen Gemeinsamkeiten (Familie, Staat, Volk u. s. w.).</p><lb/>
              <p>Der Einzelne wird nur relativ Totalität; verstehend und verstanden<lb/>
ist er nur wie ein Ausdruck der Gemeinsamkeit, deren Glied er ist<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[10/0019] Das Thier, die Pflanze, die Dinge der unorganischen Welt verstehen wir nur zum Theil, nur in gewisser Weise, nach gewissen Beziehungen, nicht in ihrem individuellen Sein. Indem wir sie nach jenen Beziehun- gen fassen, sind wir unbedenklich, sie in ihrem individuellen Sein zu ne- giren, sie zu zerlegen, zu zerstören, sie zu brauchen und zu verbrauchen. Nur den Menschen, menschlichen Aeusserungen gegenüber sind wir und fühlen wir uns als unmittelbar gleich; sie sind uns verständlich. (ἴσος, ἴσημι, ἵστωρ?) §. 10. Die einzelne Aeusserung wird verstanden als Eine Aeusserung des Innern und in der Projection auf dies Innere; das Innere wird verstanden in dem Beispiel dieser Aeusserung, als eine centrale Kraft, die, in sich gleichartig, wie in jeder ihrer peripherischen Erscheinungen so in dieser sich darstellt, Das Einzelne wird verstanden in dem Ganzen und das Ganze aus dem Einzelnen, Der Verstehende, weil er ein Ich, eine Totalität in sich ist, wie der, den er zu verstehen hat, ergänzt sich dessen Totalität aus der einzelnen Aeusserung, und die einzelne Aeusserung aus dessen Totalität. Das Verstehen ist ebenso synthetisch wie analytisch, ebenso Induction wie Deduction. §. 11. Von dem logischen Mechanismus des Verstehens unterscheidet sich der Act des Verständnisses. Dieser erfolgt unter den dar- gelegten Bedingungen als unmittelbare Intuition, als ein schöpferischer Act, wie der Lichtfunken zwischen den sich nahenden electrophoren Körpern, wie das Empfängniss in der Begattung. §. 12. Der Mensch wird, was er seiner Anlage nach ist, Totalität in sich, erst in dem Verstehen Anderer, in dem Verstandenwerden von Andern, in den sittlichen Gemeinsamkeiten (Familie, Staat, Volk u. s. w.). Der Einzelne wird nur relativ Totalität; verstehend und verstanden ist er nur wie ein Ausdruck der Gemeinsamkeit, deren Glied er ist

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/19
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/19>, abgerufen am 21.11.2024.