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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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Grund für das Obsiegen des einen oder andern erkennen,
neben einander. Welcher aber von beiden Trieben als der im
grossen und ganzen wesentliche und vorherrschende betrachtet
werden muss, das kann kaum zweifelhaft sein. Unstreitig ist
der conservative Trieb der durchgängige und herrschende.
Der ausgleichende Trieb ist der secundäre, die Ausnahme
gegenüber der Regel, die Missbildung und Verirrung gegen-
über der gesunden Bildung. Von dem zweiten Triebe auszu-
gehen, hätte kaum mehr Sinn, als für den Erforscher des
menschlichen Körpers, mit dem kranken Körper oder den Miss-
bildungen den Anfang zu machen. Auch aus einem andern
Grunde ist es für eine gesunde Methode unzulässig, erst nach
Analogiebildungen zu suchen und dann erst, wenn dies miss-
lingt, normale als erwiesen zu betrachten. Denn wenn es
irgend einen unverbrüchlichen Grundsatz für sprachliche For-
schung gibt, so ist es der, von dem evidenten auszugehn und
von da aus vorsichtig weniger evidentes zu erschliessen. Ana-
logiebildungen sind selten evident, denn das launenhafte *),
unter denselben Umständen bald eintretende, bald nicht ein-
tretende kann am allerwenigsten als evident betrachtet wer-
den. Folglich ist es am allerwenigsten geeignet, den Aus-
gangspunkt einer Untersuchung zu bilden. Der umgekehrte
Weg ist der allein berechtigte.

Mit Vorliebe hat man für die Erscheinungen, um die es
sich hier handelt, den Ausdruck psychologisch in Anspruch
genommen. Dass die Anklänge und Angleichungen von Wör-
tern und Wortformen an andre einem Vorgang in der Seele des
Menschen entspringen, ist unleugbar und konnte nie verkannt
werden. So führt z. B. Misteli an der oft erwähnten Stelle
(IX, 394) meine Bemerkungen (Stud. III, 393) über die Quelle

*) Henry, Etude sur l'analogie p. 13 nennt die Lehre von den Ana-
logiewirkungen geistreich "un chapitre interessant de teratologie lin-
guistique".

Grund für das Obsiegen des einen oder andern erkennen,
neben einander. Welcher aber von beiden Trieben als der im
grossen und ganzen wesentliche und vorherrschende betrachtet
werden muss, das kann kaum zweifelhaft sein. Unstreitig ist
der conservative Trieb der durchgängige und herrschende.
Der ausgleichende Trieb ist der secundäre, die Ausnahme
gegenüber der Regel, die Missbildung und Verirrung gegen-
über der gesunden Bildung. Von dem zweiten Triebe auszu-
gehen, hätte kaum mehr Sinn, als für den Erforscher des
menschlichen Körpers, mit dem kranken Körper oder den Miss-
bildungen den Anfang zu machen. Auch aus einem andern
Grunde ist es für eine gesunde Methode unzulässig, erst nach
Analogiebildungen zu suchen und dann erst, wenn dies miss-
lingt, normale als erwiesen zu betrachten. Denn wenn es
irgend einen unverbrüchlichen Grundsatz für sprachliche For-
schung gibt, so ist es der, von dem evidenten auszugehn und
von da aus vorsichtig weniger evidentes zu erschliessen. Ana-
logiebildungen sind selten evident, denn das launenhafte *),
unter denselben Umständen bald eintretende, bald nicht ein-
tretende kann am allerwenigsten als evident betrachtet wer-
den. Folglich ist es am allerwenigsten geeignet, den Aus-
gangspunkt einer Untersuchung zu bilden. Der umgekehrte
Weg ist der allein berechtigte.

Mit Vorliebe hat man für die Erscheinungen, um die es
sich hier handelt, den Ausdruck psychologisch in Anspruch
genommen. Dass die Anklänge und Angleichungen von Wör-
tern und Wortformen an andre einem Vorgang in der Seele des
Menschen entspringen, ist unleugbar und konnte nie verkannt
werden. So führt z. B. Misteli an der oft erwähnten Stelle
(IX, 394) meine Bemerkungen (Stud. III, 393) über die Quelle

*) Henry, Étude sur l'analogie p. 13 nennt die Lehre von den Ana-
logiewirkungen geistreich „un chapitre intéressant de tératologie lin-
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[44/0052] Grund für das Obsiegen des einen oder andern erkennen, neben einander. Welcher aber von beiden Trieben als der im grossen und ganzen wesentliche und vorherrschende betrachtet werden muss, das kann kaum zweifelhaft sein. Unstreitig ist der conservative Trieb der durchgängige und herrschende. Der ausgleichende Trieb ist der secundäre, die Ausnahme gegenüber der Regel, die Missbildung und Verirrung gegen- über der gesunden Bildung. Von dem zweiten Triebe auszu- gehen, hätte kaum mehr Sinn, als für den Erforscher des menschlichen Körpers, mit dem kranken Körper oder den Miss- bildungen den Anfang zu machen. Auch aus einem andern Grunde ist es für eine gesunde Methode unzulässig, erst nach Analogiebildungen zu suchen und dann erst, wenn dies miss- lingt, normale als erwiesen zu betrachten. Denn wenn es irgend einen unverbrüchlichen Grundsatz für sprachliche For- schung gibt, so ist es der, von dem evidenten auszugehn und von da aus vorsichtig weniger evidentes zu erschliessen. Ana- logiebildungen sind selten evident, denn das launenhafte *), unter denselben Umständen bald eintretende, bald nicht ein- tretende kann am allerwenigsten als evident betrachtet wer- den. Folglich ist es am allerwenigsten geeignet, den Aus- gangspunkt einer Untersuchung zu bilden. Der umgekehrte Weg ist der allein berechtigte. Mit Vorliebe hat man für die Erscheinungen, um die es sich hier handelt, den Ausdruck psychologisch in Anspruch genommen. Dass die Anklänge und Angleichungen von Wör- tern und Wortformen an andre einem Vorgang in der Seele des Menschen entspringen, ist unleugbar und konnte nie verkannt werden. So führt z. B. Misteli an der oft erwähnten Stelle (IX, 394) meine Bemerkungen (Stud. III, 393) über die Quelle *) Henry, Étude sur l'analogie p. 13 nennt die Lehre von den Ana- logiewirkungen geistreich „un chapitre intéressant de tératologie lin- guistique“.

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/52>, abgerufen am 26.04.2024.