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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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selben Orte S. 25 verweise ich auf das Ungarische. Sehr in-
structiv sind die Erwägungen, welche Delbrück aus Boeht-
lingk's Buch über die jakutische Sprache (Einleitung 2. Aufl.
S. 70 ff.) beibringt. So das Factum, dass die Volkssprache
der Kalmüken dergleichen Formen der Schriftsprache gegen-
über verkürzt, z. B. in der 2. Sing. tsch für das schriftmässige
tschi. Aehnlich schrumpft im Irischen der Pronominalstamm
me (ich) in der Zusammensetzung mit der Präposition do zu m
zusammen: do-m (mir). Wir haben hier also Thatsachen be-
zeugt, welche der von Bopp behaupteten Annahme, dass die
secundäre Endung s aus si hervorgegangen sei, durchaus ana-
log sind. Leider ist das Buch von Boethlingk, in dessen Ein-
leitung diese Fragen lichtvoll behandelt werden, dadurch dem
allgemeinen Gebrauche weniger zugänglich, dass zu seinem
Verständniss die Bekanntschaft mit verschiedenen seltneren
Alphabeten erfordert wird. Vielleicht entschliessen sich jün-
gere Forscher, solche Gebiete für die Durchforschung des
indogermanischen Sprachstammes in grösserem Umfange heran-
zuziehen. Einiges der Art ist von Hübschmann für das Gebiet
der Casuslehre, freilich mehr in syntaktischer Beziehung, ge-
schehen.

Die Analysen ursprachlicher Formen können in zwei Arten
getheilt werden, Zerlegungen in factisch vorhandene und solche
in bloss erschlossene Elemente. Dass die erstere Art mehr
Gewähr bietet als die zweite, bedarf keiner Begründung. Die
Erklärung der Personalendungen gehört natürlich zu der erste-
ren Art, ebenso die oft wiederholten Versuche, die stammbil-
denden und die Casussuffixe aus Pronominalstämmen zu deuten,
z. B. eine der ältesten Erklärungen Bopp's, das s als Nomi-
nativzeichen gehe auf den im Sanskrit erhaltenen Pronominal-
stamm sa zurück. Die kleinen Abschwächungen, welche man
in solchen Fällen annehmen muss, machen geringe Schwie-
rigkeiten, denn ohne sie war die leichte Beweglichkeit der
Flexionsendungen unerreichbar. Aber diese liegen bei den

selben Orte S. 25 verweise ich auf das Ungarische. Sehr in-
structiv sind die Erwägungen, welche Delbrück aus Boeht-
lingk's Buch über die jakutische Sprache (Einleitung 2. Aufl.
S. 70 ff.) beibringt. So das Factum, dass die Volkssprache
der Kalmüken dergleichen Formen der Schriftsprache gegen-
über verkürzt, z. B. in der 2. Sing. tsch für das schriftmässige
tschi. Aehnlich schrumpft im Irischen der Pronominalstamm
me (ich) in der Zusammensetzung mit der Präposition do zu m
zusammen: do-m (mir). Wir haben hier also Thatsachen be-
zeugt, welche der von Bopp behaupteten Annahme, dass die
secundäre Endung s aus si hervorgegangen sei, durchaus ana-
log sind. Leider ist das Buch von Boethlingk, in dessen Ein-
leitung diese Fragen lichtvoll behandelt werden, dadurch dem
allgemeinen Gebrauche weniger zugänglich, dass zu seinem
Verständniss die Bekanntschaft mit verschiedenen seltneren
Alphabeten erfordert wird. Vielleicht entschliessen sich jün-
gere Forscher, solche Gebiete für die Durchforschung des
indogermanischen Sprachstammes in grösserem Umfange heran-
zuziehen. Einiges der Art ist von Hübschmann für das Gebiet
der Casuslehre, freilich mehr in syntaktischer Beziehung, ge-
schehen.

Die Analysen ursprachlicher Formen können in zwei Arten
getheilt werden, Zerlegungen in factisch vorhandene und solche
in bloss erschlossene Elemente. Dass die erstere Art mehr
Gewähr bietet als die zweite, bedarf keiner Begründung. Die
Erklärung der Personalendungen gehört natürlich zu der erste-
ren Art, ebenso die oft wiederholten Versuche, die stammbil-
denden und die Casussuffixe aus Pronominalstämmen zu deuten,
z. B. eine der ältesten Erklärungen Bopp's, das s als Nomi-
nativzeichen gehe auf den im Sanskrit erhaltenen Pronominal-
stamm sa zurück. Die kleinen Abschwächungen, welche man
in solchen Fällen annehmen muss, machen geringe Schwie-
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[150/0158] selben Orte S. 25 verweise ich auf das Ungarische. Sehr in- structiv sind die Erwägungen, welche Delbrück aus Boeht- lingk's Buch über die jakutische Sprache (Einleitung 2. Aufl. S. 70 ff.) beibringt. So das Factum, dass die Volkssprache der Kalmüken dergleichen Formen der Schriftsprache gegen- über verkürzt, z. B. in der 2. Sing. tsch für das schriftmässige tschi. Aehnlich schrumpft im Irischen der Pronominalstamm me (ich) in der Zusammensetzung mit der Präposition do zu m zusammen: do-m (mir). Wir haben hier also Thatsachen be- zeugt, welche der von Bopp behaupteten Annahme, dass die secundäre Endung s aus si hervorgegangen sei, durchaus ana- log sind. Leider ist das Buch von Boethlingk, in dessen Ein- leitung diese Fragen lichtvoll behandelt werden, dadurch dem allgemeinen Gebrauche weniger zugänglich, dass zu seinem Verständniss die Bekanntschaft mit verschiedenen seltneren Alphabeten erfordert wird. Vielleicht entschliessen sich jün- gere Forscher, solche Gebiete für die Durchforschung des indogermanischen Sprachstammes in grösserem Umfange heran- zuziehen. Einiges der Art ist von Hübschmann für das Gebiet der Casuslehre, freilich mehr in syntaktischer Beziehung, ge- schehen. Die Analysen ursprachlicher Formen können in zwei Arten getheilt werden, Zerlegungen in factisch vorhandene und solche in bloss erschlossene Elemente. Dass die erstere Art mehr Gewähr bietet als die zweite, bedarf keiner Begründung. Die Erklärung der Personalendungen gehört natürlich zu der erste- ren Art, ebenso die oft wiederholten Versuche, die stammbil- denden und die Casussuffixe aus Pronominalstämmen zu deuten, z. B. eine der ältesten Erklärungen Bopp's, das s als Nomi- nativzeichen gehe auf den im Sanskrit erhaltenen Pronominal- stamm sa zurück. Die kleinen Abschwächungen, welche man in solchen Fällen annehmen muss, machen geringe Schwie- rigkeiten, denn ohne sie war die leichte Beweglichkeit der Flexionsendungen unerreichbar. Aber diese liegen bei den

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/158>, abgerufen am 27.04.2024.