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Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885.

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kleiner Irrthum sich eingeschlichen hat". Auch Astronomen
pflegen ja die Möglichkeit kleiner Irrthümer mit in Rechnung
zu bringen.

Der Behauptung Delbrück's, Einleitung 2. Aufl. S. 57:
"Die Flexion war schon in der Ursprache abgeschlossen; in
die Einzelsprachen sind nur fertige Wörter überliefert"
, wird,
glaube ich, niemand in dieser Allgemeinheit widersprechen
wollen und hat auch, so viel ich weiss, niemand je wider-
sprochen. Ein Gegensatz der Richtungen ist hier gar nicht
vorhanden. Freilich leugnet ja Delbrück selbst nicht, dass
es vereinzelte jüngere Formen gibt, die nicht jener Urzeit an-
gehören ; wie er selbst die Passivformen des Griechischen als
solche anführt und schwerlich bestreiten wird, dass die ita-
lisch-keltische Passivbildung ebenfalls als ein jüngerer Nach-
wuchs zu betrachten ist, der sich aber bis jetzt noch in tiefes
Dunkel hüllt.

Der Ausspruch übrigens: "In die Einzelsprachen sind nur
fertige Wörter überliefert worden", wird, so wahr er im
grossen und ganzen ist, doch noch anderweitiger Einschrän-
kung bedürfen. So dürfen wir nie vergessen, dass die sprach-
liche Fortpflanzung und Veränderung keine Unterbrechung er-
litt, und dass es nie einen Zeitpunkt gab, in welchem irgend
eine Sprache absolut fertig war. Es ragen vielmehr immer
die Producte früherer Perioden in die späteren hinein. Der
mit so grosser Vorliebe betonten Behauptung, dass die Pro-
ducte gleicher Zeiten auf einander einwirken und sich asso-
ciiren, lässt sich mit gleichem Rechte der weniger beachtete
Satz gegenüberstellen, dass zwischen den ältesten und jüng-
sten Zeiten ein continuirliches Band besteht. So habe ich in
meiner Schrift "Zur Chronologie" im Anschluss an die da-
mals allein herrschende Meinung zu zeigen gesucht, dass die
Vocativform eigentlich keine mit den übrigen Casus auf glei-
cher, sondern vielmehr eine auf früherer Stufe stehende, also
gleichsam eine vorweltliche oder doch nur paläontologisch

kleiner Irrthum sich eingeschlichen hat“. Auch Astronomen
pflegen ja die Möglichkeit kleiner Irrthümer mit in Rechnung
zu bringen.

Der Behauptung Delbrück's, Einleitung 2. Aufl. S. 57:
„Die Flexion war schon in der Ursprache abgeschlossen; in
die Einzelsprachen sind nur fertige Wörter überliefert“
, wird,
glaube ich, niemand in dieser Allgemeinheit widersprechen
wollen und hat auch, so viel ich weiss, niemand je wider-
sprochen. Ein Gegensatz der Richtungen ist hier gar nicht
vorhanden. Freilich leugnet ja Delbrück selbst nicht, dass
es vereinzelte jüngere Formen gibt, die nicht jener Urzeit an-
gehören ; wie er selbst die Passivformen des Griechischen als
solche anführt und schwerlich bestreiten wird, dass die ita-
lisch-keltische Passivbildung ebenfalls als ein jüngerer Nach-
wuchs zu betrachten ist, der sich aber bis jetzt noch in tiefes
Dunkel hüllt.

Der Ausspruch übrigens: „In die Einzelsprachen sind nur
fertige Wörter überliefert worden“, wird, so wahr er im
grossen und ganzen ist, doch noch anderweitiger Einschrän-
kung bedürfen. So dürfen wir nie vergessen, dass die sprach-
liche Fortpflanzung und Veränderung keine Unterbrechung er-
litt, und dass es nie einen Zeitpunkt gab, in welchem irgend
eine Sprache absolut fertig war. Es ragen vielmehr immer
die Producte früherer Perioden in die späteren hinein. Der
mit so grosser Vorliebe betonten Behauptung, dass die Pro-
ducte gleicher Zeiten auf einander einwirken und sich asso-
ciiren, lässt sich mit gleichem Rechte der weniger beachtete
Satz gegenüberstellen, dass zwischen den ältesten und jüng-
sten Zeiten ein continuirliches Band besteht. So habe ich in
meiner Schrift „Zur Chronologie“ im Anschluss an die da-
mals allein herrschende Meinung zu zeigen gesucht, dass die
Vocativform eigentlich keine mit den übrigen Casus auf glei-
cher, sondern vielmehr eine auf früherer Stufe stehende, also
gleichsam eine vorweltliche oder doch nur paläontologisch

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[134/0142] kleiner Irrthum sich eingeschlichen hat“. Auch Astronomen pflegen ja die Möglichkeit kleiner Irrthümer mit in Rechnung zu bringen. Der Behauptung Delbrück's, Einleitung 2. Aufl. S. 57: „Die Flexion war schon in der Ursprache abgeschlossen; in die Einzelsprachen sind nur fertige Wörter überliefert“, wird, glaube ich, niemand in dieser Allgemeinheit widersprechen wollen und hat auch, so viel ich weiss, niemand je wider- sprochen. Ein Gegensatz der Richtungen ist hier gar nicht vorhanden. Freilich leugnet ja Delbrück selbst nicht, dass es vereinzelte jüngere Formen gibt, die nicht jener Urzeit an- gehören ; wie er selbst die Passivformen des Griechischen als solche anführt und schwerlich bestreiten wird, dass die ita- lisch-keltische Passivbildung ebenfalls als ein jüngerer Nach- wuchs zu betrachten ist, der sich aber bis jetzt noch in tiefes Dunkel hüllt. Der Ausspruch übrigens: „In die Einzelsprachen sind nur fertige Wörter überliefert worden“, wird, so wahr er im grossen und ganzen ist, doch noch anderweitiger Einschrän- kung bedürfen. So dürfen wir nie vergessen, dass die sprach- liche Fortpflanzung und Veränderung keine Unterbrechung er- litt, und dass es nie einen Zeitpunkt gab, in welchem irgend eine Sprache absolut fertig war. Es ragen vielmehr immer die Producte früherer Perioden in die späteren hinein. Der mit so grosser Vorliebe betonten Behauptung, dass die Pro- ducte gleicher Zeiten auf einander einwirken und sich asso- ciiren, lässt sich mit gleichem Rechte der weniger beachtete Satz gegenüberstellen, dass zwischen den ältesten und jüng- sten Zeiten ein continuirliches Band besteht. So habe ich in meiner Schrift „Zur Chronologie“ im Anschluss an die da- mals allein herrschende Meinung zu zeigen gesucht, dass die Vocativform eigentlich keine mit den übrigen Casus auf glei- cher, sondern vielmehr eine auf früherer Stufe stehende, also gleichsam eine vorweltliche oder doch nur paläontologisch

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Zitationshilfe: Curtius, Georg: Zur Kritik der neuesten Sprachforschung. Leipzig, 1885, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_sprachforschung_1885/142>, abgerufen am 27.04.2024.