Wenn wir von historischer Wissenschaft sprechen, so deuten wir schon durch die Benennung an, daß wir die Griechen als diejenigen ansehen, welche auch dieses Gebiet geistiger Arbeit zuerst eingerichtet haben. Diese Ansicht hat etwas Befrem¬ dendes; denn es ist bekannt, daß von den Griechen selbst die Völker des Morgenlandes als die Gründer und Meister der Geschichtskunde mit unverhohlener Ehrerbietung anerkannt wur¬ den und daß im Nillande Erinnerungen von Jahrtausenden aufgezeichnet waren, als man in Hellas die ersten Anfänge einer geschichtlichen Litteratur machte. Darum zogen die Helle¬ nen nach Aegypten, um sich von dem Alter menschlicher Cultur einen Begriff zu machen, und mit stolzer Würde riefen ihnen die dortigen Priester zu: "Ihr Hellenen bleibt ewig Kinder! Jung und unerfahren seid ihr Alle und habt kein durch das Alter erprobtes Wissen"! Nachdem aber die Griechen eine eigene Geschichtswissenschaft begründet hatten, ist es ihnen keineswegs gelungen, sich als Hüter geschichtlicher Wahrheit eine sonderliche Anerkennung zu verschaffen. Die gründlichsten Forscher, welche unter ihnen lebten, traten in wichtigen und der Erinnerung nahe liegenden Punkten dem entgegen, was bei ihren Landsleuten allgemeine Geltung hatte; keiner ihrer Historiker ist von mancherlei Anschuldigungen frei geblieben und der Nation im Ganzen hat man die Tugend der Zuver¬
XVI. Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
Wenn wir von hiſtoriſcher Wiſſenſchaft ſprechen, ſo deuten wir ſchon durch die Benennung an, daß wir die Griechen als diejenigen anſehen, welche auch dieſes Gebiet geiſtiger Arbeit zuerſt eingerichtet haben. Dieſe Anſicht hat etwas Befrem¬ dendes; denn es iſt bekannt, daß von den Griechen ſelbſt die Völker des Morgenlandes als die Gründer und Meiſter der Geſchichtskunde mit unverhohlener Ehrerbietung anerkannt wur¬ den und daß im Nillande Erinnerungen von Jahrtauſenden aufgezeichnet waren, als man in Hellas die erſten Anfänge einer geſchichtlichen Litteratur machte. Darum zogen die Helle¬ nen nach Aegypten, um ſich von dem Alter menſchlicher Cultur einen Begriff zu machen, und mit ſtolzer Würde riefen ihnen die dortigen Prieſter zu: »Ihr Hellenen bleibt ewig Kinder! Jung und unerfahren ſeid ihr Alle und habt kein durch das Alter erprobtes Wiſſen«! Nachdem aber die Griechen eine eigene Geſchichtswiſſenſchaft begründet hatten, iſt es ihnen keineswegs gelungen, ſich als Hüter geſchichtlicher Wahrheit eine ſonderliche Anerkennung zu verſchaffen. Die gründlichſten Forſcher, welche unter ihnen lebten, traten in wichtigen und der Erinnerung nahe liegenden Punkten dem entgegen, was bei ihren Landsleuten allgemeine Geltung hatte; keiner ihrer Hiſtoriker iſt von mancherlei Anſchuldigungen frei geblieben und der Nation im Ganzen hat man die Tugend der Zuver¬
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XVI.
Der hiſtoriſche Sinn der Griechen.
Wenn wir von hiſtoriſcher Wiſſenſchaft ſprechen, ſo deuten
wir ſchon durch die Benennung an, daß wir die Griechen als
diejenigen anſehen, welche auch dieſes Gebiet geiſtiger Arbeit
zuerſt eingerichtet haben. Dieſe Anſicht hat etwas Befrem¬
dendes; denn es iſt bekannt, daß von den Griechen ſelbſt die
Völker des Morgenlandes als die Gründer und Meiſter der
Geſchichtskunde mit unverhohlener Ehrerbietung anerkannt wur¬
den und daß im Nillande Erinnerungen von Jahrtauſenden
aufgezeichnet waren, als man in Hellas die erſten Anfänge
einer geſchichtlichen Litteratur machte. Darum zogen die Helle¬
nen nach Aegypten, um ſich von dem Alter menſchlicher Cultur
einen Begriff zu machen, und mit ſtolzer Würde riefen ihnen
die dortigen Prieſter zu: »Ihr Hellenen bleibt ewig Kinder!
Jung und unerfahren ſeid ihr Alle und habt kein durch das
Alter erprobtes Wiſſen«! Nachdem aber die Griechen eine
eigene Geſchichtswiſſenſchaft begründet hatten, iſt es ihnen
keineswegs gelungen, ſich als Hüter geſchichtlicher Wahrheit
eine ſonderliche Anerkennung zu verſchaffen. Die gründlichſten
Forſcher, welche unter ihnen lebten, traten in wichtigen und
der Erinnerung nahe liegenden Punkten dem entgegen, was
bei ihren Landsleuten allgemeine Geltung hatte; keiner ihrer
Hiſtoriker iſt von mancherlei Anſchuldigungen frei geblieben
und der Nation im Ganzen hat man die Tugend der Zuver¬
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Curtius, Ernst: Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge. Bd. 1. Berlin, 1875, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/curtius_alterthum01_1875/285>, abgerufen am 03.12.2024.
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