§. 5. Dritter Versuch bey widersprechenden Aussagen.
Hat man nun zwey Autoren und gewesene Zu- schauer herausgebracht, oder gleich anfangs vor sich, (wie Kläger und Beklagten) die einander widersprechen: so wird 3. zu untersuchen seyn, ob sie nicht mehr in der Erzehlungsart, als in der Sache selbst einander widersprechen: indem wir ge- wiesen, daß in den Erzehlungen einerley Geschichte grosse Abwechselungen vorkommen: so daß Leute einander widersprechen können, obgleich keiner den muthwilligen Vorsatz gehabt hat, die Unwahrheit zu sagen. (Cap. 6.) Denn z. E. Titius sagte: Cajus habe ihm versprochen, so und so viel Getrey- de zu einer gewissen Zeit zu liefern: Sempronius läugnet es, so kan eine starcke aequivocation und Mißverstand darunter vorwalten: ob nehmlich auch das Versprechen völlig zu Stande gekommen, und zu einem gewissen Versprechen geworden ist. Und da ist es nicht allemahl klar, ob nicht die Sache bey blossen Tractaten geblieben. Jeder aber von den Partheyen siehet die Sache nach seinem Sinne an, und denckt, wenn er bey sich feste entschlossen gewesen ist, so werde es der andere auch gewesen seyn. Um nun zu erforschen, ob in der Art der Er- zehlung der Betrug stecke, so ist das eintzige Mit- tel, daß man die Begebenheit, welche gemeiniglich mit allgemeinen Worten vorgetragen wird; (§. 4. C. 6.) als man habe einer Person die Ehe ver- sprochen; man habe wo eingemiethet, u. s. w. aus dieser Decke, darein sie der Erzehler eingeklei-
det,
Zehendes Capitel,
§. 5. Dritter Verſuch bey widerſprechenden Ausſagen.
Hat man nun zwey Autoren und geweſene Zu- ſchauer herausgebracht, oder gleich anfangs vor ſich, (wie Klaͤger und Beklagten) die einander widerſprechen: ſo wird 3. zu unterſuchen ſeyn, ob ſie nicht mehr in der Erzehlungsart, als in der Sache ſelbſt einander widerſprechen: indem wir ge- wieſen, daß in den Erzehlungen einerley Geſchichte groſſe Abwechſelungen vorkommen: ſo daß Leute einander widerſprechen koͤnnen, obgleich keiner den muthwilligen Vorſatz gehabt hat, die Unwahrheit zu ſagen. (Cap. 6.) Denn z. E. Titius ſagte: Cajus habe ihm verſprochen, ſo und ſo viel Getrey- de zu einer gewiſſen Zeit zu liefern: Sempronius laͤugnet es, ſo kan eine ſtarcke æquivocation und Mißverſtand darunter vorwalten: ob nehmlich auch das Verſprechen voͤllig zu Stande gekommen, und zu einem gewiſſen Verſprechen geworden iſt. Und da iſt es nicht allemahl klar, ob nicht die Sache bey bloſſen Tractaten geblieben. Jeder aber von den Partheyen ſiehet die Sache nach ſeinem Sinne an, und denckt, wenn er bey ſich feſte entſchloſſen geweſen iſt, ſo werde es der andere auch geweſen ſeyn. Um nun zu erforſchen, ob in der Art der Er- zehlung der Betrug ſtecke, ſo iſt das eintzige Mit- tel, daß man die Begebenheit, welche gemeiniglich mit allgemeinen Worten vorgetragen wird; (§. 4. C. 6.) als man habe einer Perſon die Ehe ver- ſprochen; man habe wo eingemiethet, u. ſ. w. aus dieſer Decke, darein ſie der Erzehler eingeklei-
det,
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0360"n="324"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Zehendes Capitel,</hi></fw><lb/><divn="2"><head>§. 5.<lb/>
Dritter Verſuch bey widerſprechenden<lb/>
Ausſagen.</head><lb/><p>Hat man nun zwey <hirendition="#fr">Autoren</hi> und geweſene Zu-<lb/>ſchauer herausgebracht, oder gleich anfangs vor<lb/>ſich, (wie Klaͤger und Beklagten) die einander<lb/>
widerſprechen: ſo wird 3. zu unterſuchen ſeyn, ob<lb/>ſie nicht mehr in der <hirendition="#fr">Erzehlungsart,</hi> als in der<lb/>
Sache ſelbſt einander widerſprechen: indem wir ge-<lb/>
wieſen, daß in den Erzehlungen einerley Geſchichte<lb/>
groſſe Abwechſelungen vorkommen: ſo daß Leute<lb/>
einander widerſprechen koͤnnen, obgleich keiner den<lb/>
muthwilligen Vorſatz gehabt hat, die Unwahrheit<lb/>
zu ſagen. (Cap. 6.) Denn z. E. Titius ſagte:<lb/>
Cajus habe ihm verſprochen, ſo und ſo viel Getrey-<lb/>
de zu einer gewiſſen Zeit zu liefern: Sempronius<lb/>
laͤugnet es, ſo kan eine ſtarcke <hirendition="#aq">æquivocation</hi> und<lb/>
Mißverſtand darunter vorwalten: ob nehmlich auch<lb/>
das Verſprechen voͤllig zu Stande gekommen, und<lb/>
zu einem <hirendition="#fr">gewiſſen</hi> Verſprechen geworden iſt. Und<lb/>
da iſt es nicht allemahl klar, ob nicht die Sache<lb/>
bey bloſſen Tractaten geblieben. Jeder aber von<lb/>
den Partheyen ſiehet die Sache nach ſeinem Sinne<lb/>
an, und denckt, wenn er bey ſich feſte entſchloſſen<lb/>
geweſen iſt, ſo werde es der andere auch geweſen<lb/>ſeyn. Um nun zu erforſchen, ob in der Art der Er-<lb/>
zehlung der Betrug ſtecke, ſo iſt das eintzige Mit-<lb/>
tel, daß man die Begebenheit, welche gemeiniglich<lb/>
mit allgemeinen Worten vorgetragen wird; (§. 4.<lb/>
C. 6.) als man habe einer Perſon die <hirendition="#fr">Ehe ver-<lb/>ſprochen;</hi> man habe wo <hirendition="#fr">eingemiethet,</hi> u. ſ. w.<lb/>
aus dieſer Decke, darein ſie der Erzehler eingeklei-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">det,</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[324/0360]
Zehendes Capitel,
§. 5.
Dritter Verſuch bey widerſprechenden
Ausſagen.
Hat man nun zwey Autoren und geweſene Zu-
ſchauer herausgebracht, oder gleich anfangs vor
ſich, (wie Klaͤger und Beklagten) die einander
widerſprechen: ſo wird 3. zu unterſuchen ſeyn, ob
ſie nicht mehr in der Erzehlungsart, als in der
Sache ſelbſt einander widerſprechen: indem wir ge-
wieſen, daß in den Erzehlungen einerley Geſchichte
groſſe Abwechſelungen vorkommen: ſo daß Leute
einander widerſprechen koͤnnen, obgleich keiner den
muthwilligen Vorſatz gehabt hat, die Unwahrheit
zu ſagen. (Cap. 6.) Denn z. E. Titius ſagte:
Cajus habe ihm verſprochen, ſo und ſo viel Getrey-
de zu einer gewiſſen Zeit zu liefern: Sempronius
laͤugnet es, ſo kan eine ſtarcke æquivocation und
Mißverſtand darunter vorwalten: ob nehmlich auch
das Verſprechen voͤllig zu Stande gekommen, und
zu einem gewiſſen Verſprechen geworden iſt. Und
da iſt es nicht allemahl klar, ob nicht die Sache
bey bloſſen Tractaten geblieben. Jeder aber von
den Partheyen ſiehet die Sache nach ſeinem Sinne
an, und denckt, wenn er bey ſich feſte entſchloſſen
geweſen iſt, ſo werde es der andere auch geweſen
ſeyn. Um nun zu erforſchen, ob in der Art der Er-
zehlung der Betrug ſtecke, ſo iſt das eintzige Mit-
tel, daß man die Begebenheit, welche gemeiniglich
mit allgemeinen Worten vorgetragen wird; (§. 4.
C. 6.) als man habe einer Perſon die Ehe ver-
ſprochen; man habe wo eingemiethet, u. ſ. w.
aus dieſer Decke, darein ſie der Erzehler eingeklei-
det,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/360>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.