tet, übereinkomme, oder nicht? erstreckt? Die Historie hat man in Ansehung der Gewißheit un- angefochten gelassen. Diese Gedenckart der Phi- losophen aber hat sich seit einiger Zeit gar sehr ge- ändert: Dergestalt daß man ietzo fast durchgän- gig, zwar denen Wissenschafften die Gewißheit einräumet, welche denen Alten immer nicht ein- leuchten wollen; aber der historischen Erkentniß, wenigstens in soferne solche auf Aussagen und Zeug- nisse beruhet, alle Gewißheit absprechen, und eine blosse Wahrscheinlichkeit einräumen will.
§. 4. Wie man darauf gekommen, der Historie die Ge- wißheit abzusprechen.
Die Veranlassung zu so unstatthaften Leh- ren ist folgende. Man hat 1. gesehen, daß allge- meine Wahrheiten, (wo von doch die Consequen- tiae immediatae auszunehmen sind) wenn sie ge- wiß seyn sollen, demonstrirt werden müssen. Weil man nun auf die historische Erkentniß, in der Logick bisher gar nicht gerechnet, und daher die Erkentniß der allgemeinen Wahrheit, mit der Erkentniß überhaupt, häuffig vermenget hat: So ist 2. unvermerckt der Satz entstanden: Wahrheiten, die gewiß seyn sollen, müssen demonstrirt werden: Welches doch nur von einer Gattung allgemeiner Wahrheiten gilt: nehmlich von Theorematibus. Ja man hat 3. die Demonstration vor die Gewißheit selbst genommen: Da sie doch nur aus der Demonstra- tion entstehet. Daraus hat man 4. die Folge ge-
zogen
Neuntes Capitel,
tet, uͤbereinkomme, oder nicht? erſtreckt? Die Hiſtorie hat man in Anſehung der Gewißheit un- angefochten gelaſſen. Dieſe Gedenckart der Phi- loſophen aber hat ſich ſeit einiger Zeit gar ſehr ge- aͤndert: Dergeſtalt daß man ietzo faſt durchgaͤn- gig, zwar denen Wiſſenſchafften die Gewißheit einraͤumet, welche denen Alten immer nicht ein- leuchten wollen; aber der hiſtoriſchen Erkentniß, wenigſtens in ſoferne ſolche auf Ausſagen und Zeug- niſſe beruhet, alle Gewißheit abſprechen, und eine bloſſe Wahrſcheinlichkeit einraͤumen will.
§. 4. Wie man darauf gekommen, der Hiſtorie die Ge- wißheit abzuſprechen.
Die Veranlaſſung zu ſo unſtatthaften Leh- ren iſt folgende. Man hat 1. geſehen, daß allge- meine Wahrheiten, (wo von doch die Conſequen- tiæ immediatæ auszunehmen ſind) wenn ſie ge- wiß ſeyn ſollen, demonſtrirt werden muͤſſen. Weil man nun auf die hiſtoriſche Erkentniß, in der Logick bisher gar nicht gerechnet, und daher die Erkentniß der allgemeinen Wahrheit, mit der Erkentniß uͤberhaupt, haͤuffig vermenget hat: So iſt 2. unvermerckt der Satz entſtanden: Wahrheiten, die gewiß ſeyn ſollen, muͤſſen demonſtrirt werden: Welches doch nur von einer Gattung allgemeiner Wahrheiten gilt: nehmlich von Theorematibus. Ja man hat 3. die Demonſtration vor die Gewißheit ſelbſt genommen: Da ſie doch nur aus der Demonſtra- tion entſtehet. Daraus hat man 4. die Folge ge-
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Neuntes Capitel,
tet, uͤbereinkomme, oder nicht? erſtreckt? Die
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angefochten gelaſſen. Dieſe Gedenckart der Phi-
loſophen aber hat ſich ſeit einiger Zeit gar ſehr ge-
aͤndert: Dergeſtalt daß man ietzo faſt durchgaͤn-
gig, zwar denen Wiſſenſchafften die Gewißheit
einraͤumet, welche denen Alten immer nicht ein-
leuchten wollen; aber der hiſtoriſchen Erkentniß,
wenigſtens in ſoferne ſolche auf Ausſagen und Zeug-
niſſe beruhet, alle Gewißheit abſprechen, und eine
bloſſe Wahrſcheinlichkeit einraͤumen will.
§. 4.
Wie man darauf gekommen, der Hiſtorie die Ge-
wißheit abzuſprechen.
Die Veranlaſſung zu ſo unſtatthaften Leh-
ren iſt folgende. Man hat 1. geſehen, daß allge-
meine Wahrheiten, (wo von doch die Conſequen-
tiæ immediatæ auszunehmen ſind) wenn ſie ge-
wiß ſeyn ſollen, demonſtrirt werden muͤſſen.
Weil man nun auf die hiſtoriſche Erkentniß, in
der Logick bisher gar nicht gerechnet, und daher die
Erkentniß der allgemeinen Wahrheit, mit der
Erkentniß uͤberhaupt, haͤuffig vermenget hat:
So iſt 2. unvermerckt der Satz entſtanden:
Wahrheiten, die gewiß ſeyn ſollen, muͤſſen
demonſtrirt werden: Welches doch nur von
einer Gattung allgemeiner Wahrheiten gilt:
nehmlich von Theorematibus. Ja man hat
3. die Demonſtration vor die Gewißheit ſelbſt
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Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/320>, abgerufen am 03.03.2025.
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